Fußball-Legende im Alter von 75 Jahren gestorben
Gerd Müller - Nachruf auf einen Jahrhundert-Torjäger
von Martin Armbruster
„Vor dem Tor“, hat Gerd Müller einmal schwäbisch verschmitzt gesagt, „derfst net das Studieren anfangen“. Nein, studiert hat Gerd Müller weder in einem Hörsaal noch in den 16-Meter-Räumen dieser Welt. Den Popo rausgestreckt hat er, die muskulösen Haxn gedreht und die Murmel versenkt. Gerd Müller war ein Jahrhundert-Torjäger, ein einmaliges Fußball-Genie. Jetzt ist er im Alter von 75 Jahren nach jahrelanger Demenz gestorben.
Müller zelebrierte seinen Ruhm nicht
Als man den fußballbegeisterten Bob Marley in den Siebzigern bei einer Deutschland-Tournee fragte, was er über das Land, das er gerade bereiste, wisse, antwortete die Reggae-Ikone: „Hitler, Müller, Beckenbauer.“ Ja, so bekannt war Gerd Müller damals. Der 1945 (gleicher Jahrgang wie Marley) in Nördlingen geborene Fußballer war ein wirklicher Weltstar – wenngleich einer, der die große Welt selbst nicht brauchte.
Müller war der vielleicht höflichste und zurückhaltendste Fußball-Held der Geschichte. Dabei hätte der gelernte Weber allen Grund gehabt, den „Dicken“ zu markieren. Schließlich war es Müller, der Deutschland und den FC Bayern zu Titeln schoss und der die Torjägerkanone der Bundesliga sammelte wie andere Briefmarken. Allein: Die eigene Berühmtheit, den Ruhm zelebrieren – das passte nicht zu ihm. Gerd Müller, das war Kartoffelsalat statt Kaviar.
Auch mit seinem Spitznamen „Bomber der Nation“, den ihm Fußball-Deutschland schon früh verliehen hatte, konnte Müller nie so recht etwas anfangen. Denn erstens, „bomb i meine Tore ja net“, so der Schwabe. Und zweitens passte das mit dem Bomber irgendwie nicht zum friedfertigen Charakter des Toremachers.
Holland wird heut noch schwindlig
„Schraube“ oder „Kreisel der Nation“ hätten „kleines, dickes Müller“, wie ihn sein erster Bayern-Trainer Tschik Cajkovsky nannte, wohl besser beschrieben. Denn wie sich das 1,76-Meter-Kraftpaket mit den muskulösen Haxn im Strafraum drehen und wenden konnte, sprengte die Grenzen der Fußball-Physik. Den Holländern jedenfalls wird heute noch schwindlig, wenn sie an Müller, München und diesen 7. Juli 1974 denken.
Im WM-Finale zwischen Deutschland und den favorisierten Oranje-Kickern um Fußball-Mozart Johan Cruyff läuft die 43. Minute, es steht 1:1. Rainer Bonhof passt den Ball von der rechten Sechszehner-Linie zu Müller. Der wird von Ruud Kroll eng bewacht, nimmt die Kugel aus vollem Lauf an, steht deshalb mit dem Rücken zum Tor. Eigentlich eine aussichtlose Situation für einen Angreifer. Viele Stürmer bekommen in diesen Momenten die Flatter, versuchen den Ball dann wenigstens zu halten, um ihn irgendwie an einen Mitspieler abzugeben.
Nicht so Müller. Er tut das, was ihn so einzigartig macht. Studiert nicht, dreht sich blitzschnell um die eigene Achse (viel zu schnell für Kroll), zieht ab – 2:1. Hollands Tormann Jan Jongbloed bleibt wie angewurzelt stehen, so überraschend kommt der Schuss ins linke, untere Eck. Müllers 68. Bude im Nationaltrikot (in 62 Spielen, was eine Quote!) ist zugleich seine letzte und wichtigste. Sie hievt Deutschland auf den Fußball-Thron.

Ganz oben - ganz unten
Müllers Tore. Mit 365 Bundesliga-Treffern (in 427 Spielen) führt er die ewige Rangliste noch immer mit großem Vorsprung an, sein Rekord von 40 Toren in einer Saison (1971/72) wurde erst dieses Jahr von Bayern-Star Robert Lewandowski geknackt, der den Ball 41 Mal über die Linie brachte. Siebenmal sackte Müller die Torjäger-Kanone ein.
Er gewann alles, was es zu gewinnen gab. WM, EM, viermal die deutsche Meisterschaft, dreimal den Europapokal der Landesmeister (heute die Champions League), den Weltpokal. Müller war auf dem Gipfel. Aber auch ganz unten.
Mehr als nur Abstauber und Torjäger

Nachdem er seine Karriere in den USA hatte ausklingen lassen, stürzte er ab, verfiel dem Alkohol, seiner großen Schwäche. Dank Ehefrau Uschi, die stets zu ihm hielt, und seinen Freunden vom FC Bayern, kam Müller wieder auf die Beine. Der Herr der Tore machte eine Entziehungskur, fand als Co- und Jugendtrainer bei den Münchnern wieder eine Aufgabe.
Und an der Säbener Straße konnten sie einen Mann seines Fußball-Sachverstands mehr als gut gebrauchen. Müller sei viel mehr als nur der Abstauber und Torjäger gewesen, betonte Trainer-Legende Udo Lattek einmal in einer Fernsehsendung. „Das kann man nicht lernen. Er war ein Genie. Der konnte auch in der Abwehr und Libero spielen, auch im Mittelfeld. Er hatte einen Fußball-Instinkt und ein Fußballwissen, man konnte sich mit ihm über Fußball unterhalten, das war sensationell.“ Nur zu „lieb und anständig“ sei der Gerd gewesen. „Er war mein liebster Spieler, wenn der noch mehr Ellbogen gehabt hätte, …“, holte Lattek aus.
Zu einer einzigartigen Weltkarriere hat es Gerd Müller ganz ohne Ellbogen gebracht. Seine strammen Wadeln und der einzigartige Torriecher reichten aus. Müller blieb immer Müller. Fußball-Deutschland verneigt sich – vor dem größten Torjäger, den es je hatte.