Gold über 100 Meter

Fred Kerley: Die bewegende Geschichte des Sprint-Weltmeisters

 220716 Fred Kerley of USA competes to win men s 100 meter final during day 2 of the 2022 World Athletics Championships on July 16, 2022 in Eugene. Photo: Jon Olav Nesvold / BILDBYRAN / COP 217 / JM0324 bbeng friidrott athletics friidrett 2022 world athletics championships world athletics championships oregon22 friidrotts-vm friidretts-vm vm usa jubel *** 220716 Fred Kerley of USA competes to win men s 100 meter final during day 2 of the 2022 World Athletics Championships on July 16, 2022 in Eugene Photo Jon Olav Nesvold BILDBYRAN COP 217 JM0324 bbeng friidrott athletics friidrett 2022 world athletics championships world athletics championships oregon22 friidrotts vm friidretts vm vm usa jubel, PUBLICATIONxNOTxINxSWExNORxAUT Copyright: JONxOLAVxNESVOLD BB220716JE125
Fred Kerley ist neuer Weltmeister über 100 Meter und erzählt eine bemerkenswerte Geschichte über sein Leben.
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Fred Kerley ist der schnellste Mann der Welt - und die USA feiern über die 100 Meter bei der WM neben Gold auch noch Silber und Bronze. Die großen Fußstapfen von Usain Bolt kann zwar auch der Texaner nicht füllen, als Vorbild taugt er wegen seiner Lebensgeschichte dennoch.

Eine Legende war Fred Kerley auch schon vor dem späten Samstagabend (amerikanischer Zeit). Und Fred Kerley hatte aus diesem, seinem Status kein Geheimnis machen wollen. Das Gegenteil war der Fall. Er hatte sich den wenig bescheidenen Spitznamen "The Legend" selbst einst verpasst. Allerdings nicht ganz ohne Grund. Der 27-Jährige gehört zu jener Elite von Sprintstars, die jeweils eine Zeit von unter 10 Sekunden über 100 Meter, von unter 20 Sekunden über 200 Meter und von unter 44 Sekunden über 400 Meter gelistet haben. Sonst noch in diesem Kreis: US-Talent Michael Norman und der südafrikanische 400-Meter-Weltrekordler Wayde van Niekerk.

Doch bis zu diesem späten Samstagabend (amerikanischer Zeit) war Kerley eine Legende ohne Krönung. Mit der amerikanischen 4x400-Meter-Staffel hatte er zwar bereits je einmal WM-Gold und WM-Silber gewonnen, aber im Duell Mann gegen Mann fehlte ihm noch der große Titel, der seinen stolzen Hals mit Gold schmückt. Dieses Versäumnis hat der Mann ohne Lächeln nun nachgeholt. In einem spektakulären Finale über 100 Meter setzte sich Kerley hauchzart gegen seine beiden Landsmänner Marvin Bracy und Trayvon Bromell durch. Erst auf den allerletzten Metern schob er sich mit seiner herausragenden Endgeschwindigkeit nach vorne.

"Es hat sich großartig angefühlt"

Carl Lewis spricht sich für die Sommerspiele 2020 in Tokio aus. Foto: Peter Foley
Carl Lewis führte 1991 das USA-WM-Triple an.
DPA

Spektakulär war der Lauf, weil er spannend war. Nicht, weil die Zeiten so herausragend waren. Kerley siegte in 9,86 Sekunden, seine US-Kollegen wurde jeweils mit 9,88 Sekunden gestoppt. Tolle Zeiten, aber sie hielten nicht, was die Vorleistungen versprochen hatten. Kerley etwa kam mit einer Saisonbestmarke von 9,76 Sekunden zur WM nach Eugene, lief im Vorlauf bereits 9,79 Sekunden. Aber vielleicht ist dieses eher normale Spektakel gar nicht so schlecht. Denn je phänomenaler die Zeiten, desto größer der Verdacht. Der Dopingschatten ist eben ein ewiger Begleiter bei jedem Sprintrennen. Zu oft wurden die strahlenden Helden nachträglich überführt. Wie einst etwa der ikonische Carl Lewis, der 1991 das bisher letzte US-Medaille-Tripe bei einer WM angeführt hatte. Er siegte vor Leroy Burrell und Dennis Mitchell.

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"Es hat sich großartig angefühlt", sagte der neue strahlende Held nach seiner Legendenkrönung. "Es ist großartig, das auf heimischem Boden zu schaffen mit den heimischen Fans im Rücken." Die allermeisten von ihnen werden wohl erst jetzt seine bemerkenswerte Geschichte kennenlernen. Es ist eine Geschichte, wie sie die Amerikaner lieben. Von einer schweren Kindheit, von rauen Milieus und einem heldenhaften Aufstieg, der im vergangenen Jahr noch einen kurzen Schlenker ins Pech drehte, ehe nun das Happy End geschrieben ist. Bei den Olympischen Spielen in Tokio wurde seine Goldmission vom italienischen Sensations-Aufsteiger Marcell Jacobs kassiert. Es war eine Niederlage, die schmerzt. Noch bis zum Start in das WM-Finale. "Ich war so dicht dran an Gold, so dicht", sagte Kerley über seine Pleite in Tokio: "Ich habe etwas erreicht, aber Silber ist nicht genug - ich wollte Gold."

"Niemand auf dieser Welt wird mein Selbstvertrauen brechen"

Tokyo 2020 Olympics - Athletics - Men's 100m - Final - OLS - Olympic Stadium, Tokyo, Japan - August 1, 2021. Lamont Marcell Jacobs of Italy crosses the line to win gold REUTERS/Pawel Kopczynski
Von Marcell Jacobs im olympischen Finale besiegt: Fred Kerley.
mb, REUTERS, PAWEL KOPCZYNSKI

Diese Besessenheit trug ihn bis nach Eugene. "Niemand auf dieser Welt wird mein Selbstvertrauen brechen. Ich glaube an mich", bekannte Kerley vor dem WM-Sprint-Spektakel: "Ich gehe nie mit dem Gedanken in ein Rennen, dass ich verlieren werde." Und das tat er auch nicht. Bis zum letzten Zentimeter glaubte er dran und als die Anderen glaubten, ihn schlagen zu können, zog er vorbei. Was war vorher alles diskutiert worden? Würde Jacobs wieder zuschlagen (er konnte im Finale verletzt nicht starten)? Würde das ewige Talent Trayvon Bromell endlich einen großen Sieg holen? Kerley interessierte das alles nicht. Er dachte nur an sich und seinen Traum.

Den amerikanischen Traum. Aufgewachsen in Verhältnissen, die man wohlwollend noch als "schwierig" betiteln darf, kämpfte er sich durch seine Kindheit und Jugend. Der Vater musste früh in Kerleys Leben ins Gefängnis, die Mutter scheiterte daran, die Familie mit fünf Kindern beisammen zu halten und driftete auf die schiefe Bahn ab. Der Sprinter spricht ganz offen über seine Vergangenheit, veröffentlichte im Internet bereits eine Kurzbiografie. Sie trägt den Namen "Meme and me". Meme, das ist der Rufname seiner Tante. Bei der wuchs Kerley schließlich auf. In beengter Umgebung. 13 Kinder teilten sich im Haus der Tante ein Zimmer! Nicht immer wurden alle satt, als Teenager landete Kerley fast im Gefängnis. Über den Sport schaffte er es ans College. Dank Meme.

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Gescheiterte Existenzen als Antrieb

Athletics - World Athletics Championships - Men's 100 Metres - Final - Hayward Field, Eugene, Oregon, U.S. - July 16, 2022 Gold medallist Fred Kerley of the U.S. celebrates after winning the men's 100 metres final REUTERS/Aleksandra Szmigiel     TPX IMAGES OF THE DAY
Jetzt endlich ein Goldjunge.
zc, REUTERS, ALEKSANDRA SZMIGIEL

"Sie ist eine unglaubliche Frau mit der besten Persönlichkeit, die man sich wünschen kann. Freundlich und fürsorglich, hart, aber fair. Ohne sie wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht hier. Ich wäre definitiv kein Weltklasse-Athlet, und wer weiß, wo ich im Leben gelandet wäre", schrieb Kerley in seiner Kurzbiografie. Und bekannte nun: "Ich denke jeden Tag an sie. Wenn sie nicht gewesen wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich nicht mit Ihnen sprechen. Sie hat ihr Leben für mich und meine Brüder, Schwestern und Cousins geopfert."

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In der Geschichte über seine Vergangenheit sagt er auch, dass all die gescheiterten Existenzen in seinem direkten Umfeld die große Motivation waren, aus dem eigenen Leben etwas Besseres zu machen: "Der Unterschied war meine Einstellung." Seine Bereitschaft, für das Glück zu kämpfen. Immer mit Meme als Begleiterin. Er hat ihren Namen auf seinen Arm tätowieren lassen. Als er sich an der Highschool das Schlüsselbein brach und zweifelte. "Ich bin ihr dankbar, dass sie mich in die Lage versetzt hat, im Leben zu gewinnen", sagt Kerley nun über seine Tante: "Ich weiß, dass sich heute viele Türen für mich geöffnet haben. Die Zukunft ist rosig für mich."

Diese Zweifel sind längst getilgt und dem Glauben gewichen, dass er Großes, vielleicht den Größten in seinem Sport erreichen kann: die jamaikanische Legende Usain Bolt. "Er ist wahrscheinlich ein Vorbild für jeden von uns. Er hat Großartiges geleistet. Wir alle wollen auf dem Podest stehen und sein Level erreichen", bekannte Kerley. "Er hat etwas geschafft, das nicht viele geschafft haben: Weltrekord über 100 und 200. Ich habe das Gefühl, wir wollen alle mit ihm auf einer Stufe stehen." Ob ihm das sportlich gelingt? Fraglich. Sein Potenzial scheint zwar längst nicht ausgeschöpft, denn erst im vergangenen Jahr schwenkte er ja von den 400 auf die 100 Meter um. Und als Ikone des Sports? Noch fraglicher. Kerley ist wortkarger Mensch, eine Legende ohne Lächeln. (tno)