Abwehr- oder Mental-Monster?
Wer gewinnt denn nun die EM?

Eine wichtige Erkenntnis dieser Fußball-EM ist: Todesgruppen sind nicht so todesgruppig wie man gemeinhin denkt. Gehen wir es kurz chronologisch an: Die Ungarn scheiterten als Gruppenletzter, waren aber die Mannschaft, die am meisten überrascht hat. Leidenschaftlich war das Team von Herrn Rossi aufgetreten, hat dabei auch überraschend guten Fußball gespielt und sich nicht nur auf die Paraden von Teufels-Keeper Peter Gulasci verlassen. Dritter in der Gruppe waren die Portugiesen geworden. Ihr Traum von der Titelverteidigung platzte im Achtelfinale gegen Belgien. Es war ein Ende mit Ansage: Denn in einer Form, die für große Weihen getaugt hätte, war die Mannschaft um Cristiano Ronaldo, der immerhin fünf Tore erzielt hatte, nicht.
Kommen wir zu Deutschland, dem Gruppenzweiten. Vermutlich haben Sie mitbekommen, dass auch für das DFB-Team in der ersten Knockout-Runde Schluss war. Gegen England gab's ein 0:2. Besonders tragisch (I): Es war das letzte Spiel des Bundestrainers Joachim Löw. Besonders tragisch (II): Thomas Müller, den Löw für die EM als Anführer begnadigt hatte, vergab kurz vor dem Ende, kurz vor dem 0:2, die Riesenchance zum Ausgleich. Nun, die tragischste Figur der EM ist er aber nicht. Um diesen Titel bewirbt sich unfreiwillig Kylian Mbappé. Der Superstar von Paris St. Germain scheiterte im Drama vom Punkt am Schweizer Torwart Yann Sommer. Die Franzosen, Bester der Todesgruppe und Topfavorit auf den Titel, ebenfalls raus. Wer also macht's nun?
Hier kurz die Spiele in der Übersicht:
Freitag, 18 Uhr: Schweiz gegen Spanien
Freitag, 21 Uhr: Belgien gegen Italien
Samstag, 18 Uhr: Tschechien gegen Dänemark
Samstag, 21 Uhr: Ukraine gegen England
Viele Topspieler, aber kein Kollektiv - Löw zu bockig
Belgien und Italien - Duell der Favoriten
Die Belgier, die machen es nun (haha). Es ist ein bittersüßer Running Gag im internationalen Fußball geworden. Die wohl beste Generation, die die "Diables Rouges" je hatten, kämpft seit Jahren verbissen darum, sich und ihr Talent endlich mit einem großen Titel zu belohnen. Und dazu zählt natürlich nicht der erste Platz der Fifa-Coca-Cola-Weltrangliste (sie heißt tatsächlich so). Dieses Jahr (haha) könnte es nun endlich so weit sein. Dazu braucht es allerdings eine Sache: einen gesunden Kevin De Bruyne. Mit dem Spielmacher von Manchester City ist dieses Team herausragend, ohne ihn ist dieses Team um den zweiten großen Star, um Romelu Lukaku, "bloß" ziemlich gut. Aber ob ziemlich gut reicht, eher nicht. Vermutlich schon am Abend nicht, wenn es gegen Italien geht.
Ja, die Italiener, die haben bei dieser EM schon für reichlich Verzückung gesorgt. Und wenn die Euphorie der Vorrunde nach dem zähen Kampf gegen die prächtigen Österreicher ein Dämpfer erhalten hat, dann ist es ein kleiner. Auf einem Gerät, das Dämpfer messen kann, wäre er vermutlich nicht registriert worden. Denn warum sollte man sich auch verunsichern lassen, nach 31 Spielen in Folge ohne Niederlage? Wenn sie im Land über die letzte Pleite reden, dann klingt das ein bisschen wie "Opa erzählt vom Krieg". Die Italiener haben mit Gianluigi Donnarumma einen ganz starken Torwart, eine überragende Abwehr (die noch besser ist, wenn Giorgio Chiellini spielen kann), ein wuchtiges und spielstarkes Mittelfeld und mit Ciro Immobile einen echten Stürmer. So einen Stürmer, wie ihn Deutschland gerne hätte. Und nicht hat.
Schweiz träumt vom EM-Märchen gegen Spanien
Das schönste EM-Märchen wäre...
Ein bisschen ähnlich steht's mit den Engländern. Einziger großer Unterschied: Eine Euphorie im Land gibt es eher nicht. Zwar fremdeln die Fans zunehmend weniger mit dem Ansatz von Trainer Gareth Southgate, der sein Team vorwiegend auf Stabilität aufbaut und in der Offensive auf die pfiffigen Ideen von Raheem Sterling setzt, aber auch in England weiß man mittlerweile ja: Offense wins games but defense wins championships. Skurril mutet der Blick auf die Ersatzbank dennoch an: Da sitzt ein Jadon Sancho, der für 85 Millionen Euro von Borussia Dortmund zu Manchester United wechselt. Da sitzt ein Marcus Rashford, ein Phil Foden und ein Mason Mount. Allesamt mit einem herausragenden Talent gesegnet. Aber gut, bei den "three lions" steht immer noch die Null, womöglich huubstevenst sich das Team langweilig aber stabil zum Titel. Dem ersten seit der WM 1966. Wie einst in Wembley. Nur bereits jetzt schon sicher: ohne Wembley-Tor. Der VAR ist ja da. Zumindest meistens.
Die emotionalste Titelgeschichte würde ohne jeden Zweifel Dänemark erzählen. Wie sich die Mannschaft nach dem Herzstillstand-Schock um Spielmacher Christian Eriksen ins Turnier gekämpft hat, wie sie für ihren Top-Star gelitten und gespielt hat, das sorgt immer wieder für Gänsehaut. Ebenso wie die Jubelmomente der Mannschaft, das enge Verhältnis zu den Fans. Ein Symbiose, die schon häufiger Großes bewirkt hat. Und schlecht ist das Team ja auch nicht. Eine gute Mischung aus erfahrenen Stammspielern in Top-Ligen und Talenten um Kasper Dollberg, Mikkel Damsgaard, Andreas Skov Olsen und Jonas Wind. Die große Stärke ohne Eriksen ist der Defensivverbund um Torwart Kapser Schmeichel, Sohn der Legende Peter Schmeichel, und die Innenverteidiger Simo Kjaer, Jannik Vestergaard und Andreas Christensen (alle bekannt aus der Bundesliga). [...] defense wins (siehe oben)!
Spanien spielt sich rechtzeitig in Top-Form

Nun, die Spanier haben gegen Kroatien keine erfolgreiche Bewerbung als Defensiv-Architekten abgegeben, dafür ist die Mannschaft von Trainer Luis Enrique spielerisch in Schwung gekommen und schießt auch Tore, das war zu Turnierbeginn ja ein ziemliches Problem. 1000 Mal berührt, 1000 Mal ist nichts passiert, so lief das (Pass)-Spiel der Spanier. Und bei all der Euphorie ums titeltaugliche Verteidigen ist ja auch klar: ohne Tore, keine Siege. Ohne Siege, keine Titel. Die Mannschaft der Spanier ist tatsächlich spannend, hat ein abgezocktes Mittelfeld, das durch die Wiedereingliederung des zuletzt coronainfizierten Sergio Busquets noch ein bisschen abgezockter ist und ist eigentlich auf jeder Position mindestens gut bis sehr gut besetzt. Vor allem jetzt, wo der zwischenzeitlich in der Heimat hart angegangene Stürmer Alvaro Morata wieder trifft.
Bleiben noch die Tschechen, die Schweizer und die Ukrainer. Die Tschechen spielen mit ihren robusten Jungs ein tolles Turnier. Sicher in der Abwehr, gefährlich im Konterspiel und vorne abschlussstark mit dem Leverkusener Patrick Schick. Sollte der Weg noch ein bisschen weiter gehen, es wäre keine Überraschung. Das gilt auch für die Ukrainer. Deren größter Star ist der Trainer, Andrij Schewtschenko. Der ehemalige Weltklasse-Stürmer hat seiner Mannschaft die osteuropäische Form des Tikitaka auferlegt. Technisch stark, taktisch clever und immer mit dem Maximum an Einsatz. Was für die Tschechen gilt, das gilt auch für die Ukraine: Der Weg muss im Viertelfinale nicht zu Ende sein. Eng wird es dagegen für die Schweizer. Ob der Mannschaft um den überragenden Granit Xhaka gegen Spanien noch einmal so ein emotionaler Hexenritt gelingt, wie gegen die Franzosen, als man aus einem 1:3 spät noch ein 3:3 machte und sich über das Elfmeterschießen zum Helden machte?