6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht schreiben und lesenWie erleben Analphabeten den Alltag?

Insgesamt 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können kaum lesen und schreiben. Das geht aus einer Studie hervor, die die Universität Hamburg mit Fördermitteln des Bundesbildungsministeriums durchgeführt hat.
Wie kann es sein, dass so viele Menschen, die nicht lesen und schreiben können, in Deutschland leben und keiner es merkt? In unserem Video erzählt ein ehemaliger Analphabet, wie er sein Arbeitsleben meistern konnte, ohne dass es jemand bemerkt hat.

Wie kommen Menschen, die nicht lesen und schreiben können durch die Schule?

Agnieszka Jaworski, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung, erklärt: „Der größte Teil der funktionalen Analphabeten hat einen Schulabschluss. Sie wurden oft einfach mitgezogen. Bei funktionalen Analphabeten ist es ja auch nicht so, dass sie gar nicht schreiben und lesen können.“ Die schlechten schriftlichen Leistungen würden sie mit guter mündlicher Mitarbeit wieder wettmachen, oder mit guter Mitarbeit in andern Fächern wie Mathe.

Das Problem liegt meist aber auch in der weiteren Förderung nach der Schule. „Viele funktionale Analphabeten können während der Schulzeit schon etwas lesen und schreiben. Sie besuchen dann aber meist Förderschulen, bei denen der Anspruch an die Schüler geringer ist. Wenn sie dann nach dem Abschluss einfach aufhören mit dem lesen und schreiben, dann verlernen sie es irgendwann. Ich hatte Französisch in der Schule, habe es danach nicht mehr gesprochen und kann mittlerweile auch nichts mehr verstehen - das ist das gleiche“, sagt die Bildungs-Expertin.

Mit kleinen Tricks meistern Analphabeten den Alltag

Menschen, die nicht lesen und schreiben können, haben oft eine oder zwei Vertrauenspersonen, die ihnen in Alltagssituationen helfen. „Wenn sie, zum Beispiel, zum Amt gehen, dann sagen sie einfach, dass sie die Papiere mit nach Hause nehmen und dort ausfüllen. Dabei hilft ihnen dann ihre Vertrauensperson“, so Jaworski. Essentiell für funktionale Analphabeten ist aber auch ihr Gedächtnis - und das ist oft richtig gut. Sie würden die Wörter meist zwar nicht lesen, aber sich merken können, wie das Wort aussieht und so wissen, worum es geht.

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Nicht lesen zu können ist anders als nicht rechnen zu können

Für viele Menschen ist es normal, nicht rechnen zu können. Viele profilieren sich sogar damit. Nicht lesen und schreiben zu können, das ist jedoch für die meisten unvorstellbar und wird somit zum Tabuthema. Agnieszka Jaworski weiß, wie sehr sich Betroffene oft schämen: „Wenn funktionale Analphabeten als Küchenhilfe arbeiten und sie gebeten werden etwas vorzulesen, dann verletzen sie sich oft einfach selbst, um aus dieser Situation herauszukommen. Sie stecken dann zum Beispiel ihre Hand in die Friteuse oder schneiden sich.“ Eine beliebte Ausrede sei aber auch, dass sie die Brille vergessen haben und deshalb nicht lesen können.

Auch mit 50 noch Lesen und Schreiben lernen

Agnieszka Jaworski macht allen funktionalen Analphabeten Mut, denn auch mit Mitte 50 können sie noch lesen und schreiben lernen, „das geht natürlich nicht innerhalb von vier Wochen, es dauert seine Zeit“. Dennoch lohnt es sich. Denn es macht den Betroffenen deutlich einfacher, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ohne Angst durchs Leben zu gehen.