Sozialer Brennpunkt Kölnberg: Wo Leichen aus dem Fenster fliegen
Von Cengiz Ünal
Eine verweste Leiche fällt aus dem neunten Stock eines Hochhauses und landet direkt vor einem Kindergarten. Der Kölnberg, eine Hochhaussiedlung im Kölner Stadtteil Meschenich, sorgte am 12. Juni 2014 nicht zum ersten Mal für negative Schlagzeilen. 4.000 Menschen aus 60 Nationen leben hier auf engstem Raum. Für die meisten Kölner ist das Viertel nicht mehr als ein 'Sozialer Brennpunkt'.
Sei es in den lokalen oder überregionalen Medien: Vom Kölnberg hört man nur dann etwas, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Ich will aber wissen, ob der Kölnberg seinem schlechten Ruf gerecht wird. Um das herauszufinden, mache ich mich auf den Weg dorthin. Ich bin mit Polizeihauptkommissar Thilo Lotterer (50) in der Wache Köln-Meschenich verabredet. Die wurde Mitte der 80er-Jahre in einer der 520 Wohneinheiten 'An der Fuhr 4' eingerichtet. Kaum habe ich die Polizeiwache betreten, bin ich auch schon mitten im Geschehen: Zwei Kriminalpolizisten beraten sich zusammen mit Thilo Lotterer und seinem Kollegen, weil sie kurz davor sind, einen seit Langem gesuchten Mann zu verhaften. Dem Gesuchten wird vorgeworfen, mehrere Wohnungseinbrüche in der Nachbarschaft begangen zu haben. Die Beamten haben eine Wohnung im Visier, in der der Mann leben soll, aber sicher sind sie sich dabei nicht. Die beiden Polizisten von der Kripo entscheiden sich dafür, einen Besuch bei der Wohnung abzustatten. Thilo Lotterer bleibt in der Wache. Er erklärt mir die Lage und ergänzt: "Ruhestörung, Nachbarschaftsstreitigkeiten - auf dem Kölnberg ist immer was los. Erst in den letzten Nächten gab es wieder eine Serie von Wohnungseinbrüchen."
Lotterer ist schon seit über 16 Jahren auf dem Kölnberg im Einsatz, seitdem hat der geborene Kölner schon Vieles erlebt. "Es ist kein einfacher Job hier", gibt er offen zu. So etwas wie einen Alltag hat der erfahrene Polizist nicht. "Als Bezirksbeamter ist man für alles zuständig, was die Menschen hier so angeht", sagt Lotterer. Das Vollstrecken von Haftbefehlen gehört ebenso zu seinem Job wie polizeiliche Sozialarbeit. Dann hilft er Bewohnern mit geringen Deutschkenntnissen Anträge auszufüllen und übersetzt Verwaltungsbriefe. Manchmal aber kann behördliche Post gar nicht zugestellt werden, weil an vielen Briefkästen Namensschilder fehlen.
Auch wenn es nicht auf den ersten Blick auffällt, gilt der Kölnberg als Rückzugsort für Drogenjunkies. Im gesamten Gebäudelabyrinth sollen ca. 20 Wohnungen leer stehen, die von den Drogenabhängigen genutzt werden. Regelmäßig nehmen die Beamten Dealer fest, die in den Wohneinheiten ihre Ware lagern. Die Dealer wechseln aber ständig ihren Ort, so kann die Polizei ihre Spuren nicht immer nachverfolgen. Nicht nur die Drogenszene, auch Prostitution und Beschaffungskriminalität prägen das Bezirksbild.
"Der Kölnberg ist ein klassischer Täter-Rückzugsraum", erklärt Lotterer. Ein Milieu, in dem man sehr gut untertauchen kann. Die Anonymität hier macht es möglich. Die Menschen interessiert nicht, was in der Nachbarwohnung passiert. "Da kann man eine Wohnungstür aufbrechen und niemand will es dann gehört haben." Ein großes Problem ist, dass die Bevölkerungsgruppen sehr durchmischt sind. Die leben hier neben- statt miteinander. Die Türken sind die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von Zeitarbeitern aus Polen, Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Irak. Zudem zogen seit der EU-Osterweiterung immer mehr Rumänen und Bulgaren ein, von denen viele nicht angemeldet sind.
"Es stinkt überall"
Bis auf die niedrigen Mieten hat der Kölnberg nichts Attraktives an sich. Mehmet Koyuncu* wohnt in einem der Hochhäuser. Als ich die Wohnung seiner Familie betrete, kommt mir der leckere Geruch von Fleisch entgegen. Ehefrau Fatma* bereitet das Abendessen fürs Fastenbrechen zu, denn es ist nach islamischem Glauben Fastenmonat Ramadan.
Der 56-jährige Familienvater kommt ursprünglich aus der Türkei und wohnt schon seit 20 Jahren am Kölnberg. In gebrochenem, aber verständlichen Deutsch beklagt er: "Früher war es ganz anders hier. Jetzt kennt hier niemand niemanden. Und es stinkt überall." Aufzüge und Treppenhäuser werden als Toiletten missbraucht. Benutzte Kondome und Spritzen liegen in den langen Gängen des Wohnkomplexes. Zwar sitzen am Hauseingang 24 Stunden am Tag Pförtner, die theoretisch alle Aufzüge und Treppenhäuser im Auge behalten. Praktisch haben sie nicht viel Macht in ihrer Position.
Koyuncu selbst habe erst vor Kurzem zwei Männer weggejagt, die vor seiner Haustür urinieren wollten. Dann ist da noch das große Müllproblem. "Da schmeißen einige ihren Müll einfach so vom Balkon. Ohne Rücksicht auf andere." Er erzählt, dass erst am Vortag eine 15 Kilo schwere Wassermelone heruntergeworfen wurde. "Wenn das ein Kind getroffen hätte, wäre es doch tot!" Die Wassermelone landete direkt auf dem Außenspielplatz vom Kindergarten. Die Kinder dürfen nun nicht mehr draußen spielen, bis eine Überdachung gebaut wird. Noch während wir im Wohnzimmer von Familie Koyuncu sitzen, werden wir Zeuge, wie jemand benutzte Windeln aus dem Fenster wirft. Dass hier vor einem Monat eine verweste Leiche vom Himmel fiel, war für den Familienvater die Spitze vom Eisberg.
Sohn Eren* ist 15 Jahre alt und geht aufs Gymnasium. Auch er ist unzufrieden mit der Wohnung am Kölnberg: "Alle meine Freunde leben in anderen Stadtteilen, in normalen Wohngegenden. Ich kann keine Freunde mit nach Hause nehmen." Seine Zwillingsschwester Ceylan* hat den Traum, Tierärztin zu werden. Ich frage sie, ob sie denkt, dass es schwieriger werden könnte, ihren Traum zu erfüllen, wenn sie am Kölnberg wohnen bleiben. Sie scheint in der Familie die Optimistin zu sein: "Ich glaube nicht, dass sie darauf achten, wo ich lebe."
Doch die Realität sieht anders aus: Gabi Christmann arbeitet gegenüber dem Hochhauskomplex in der Jobbörse Meschenich, direkt neben dem türkischen Supermarkt 'Mevlana'. Im Auftrag des Jobcenters vermittelt sie Langzeitarbeitslosen Jobs. Kein leichter Job in Meschenich. Die Vermittlung sei extrem schwierig bis gar nicht möglich – allein deshalb, weil die Suchenden am Kölnberg wohnen: "Es besteht ein Makel, wenn man auf dem Ausweis 'An der Fuhr' stehen hat. Da gibt es sehr viele Vorurteile und Berührungsängste. Der Kölnberg ist einfach schlecht angesehen." Zu dem Problem mit der Anschrift kommt noch die Sprachbarriere: Mehr als ein Viertel der Bewohner spricht kein Deutsch. Dadurch sinken die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Um dies zu ändern, werden Integrationskurse angeboten.
"Der Wohnzustand auf dem Kölnberg hat sich in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Dennoch sind viele öffentliche Maßnahmen eingespart worden", sagt Christmann. Gerade Jugendlichen macht die Lage zu schaffen. Weil sie keine Anbindung finden, geraten sie schneller ins kriminelle Milieu. Ich frage bei der Stadt Köln nach, welche Mittel verwendet werden, um den Kölnberg in positives Licht zu rücken und gerade Jugendliche aus der Perspektivlosigkeit zu bringen. Auch nach einer Woche Hin- und Hertelefonieren möchte sich niemand von der Stadt zum Kölnberg äußern. Es ist ein heißes Thema, über das niemand sprechen will. Ein Sprecher sagt mir lediglich, dass es nach den Sommerferien ein gemeinsames Projekt von Polizei und Ordnungsamt geben wird.
Die Berührungsängste zwischen Kölnberg und dem Rest der Stadt bleiben also bestehen. Wie schafft man es, aus dem Teufelskreis hier auszubrechen? Bei der Masse an Problemen ist es keine leichte Aufgabe, ein Erfolgskonzept zu finden. Es kann aber auch nicht sein, dass der Kölnberg für immer auf sich alleine gestellt bleibt. Mehmet Koyuncu kann jedenfalls die Zustände nicht mehr aushalten. Er sieht für sich und seine Familie keine Zukunft mehr am Kölnberg: "Ich möchte meine Wohnung nicht verlassen, ich habe alles neu renoviert. Aber ich muss."
*Namen von der Redaktion geändert