„Ich bin enttäuscht über dieses System“Ein Mord, den es nie gab: Manfred Genditzki über sein Leben nach über 13 Jahren Gefängnis

Wie lebt ein Mann nach seiner Entlassung, nachdem er über 13 Jahre seines Lebens offenbar unschuldig hinter Gittern verbracht hat? Manfred Genditzki beantwortet uns genau diese Frage.
2010 wurde er wegen Mordes an einer 87-jährigen Frau verurteilt. Die Seniorin wurde im Oktober 2008 leblos in ihrer Badewanne aufgefunden, ein Unfallgeschehen konnte laut eines damaligen Rechtsmediziners ausgeschlossen werden. Genditzki, der damals in der Wohnanlage als Hausmeister tätig war und sich lange Zeit fürsorglich um die ältere Frau kümmerte, stand plötzlich unter Mordverdacht. Obwohl weder ein Tatmotiv noch DNA-Spuren vorlagen, zeigte sich das Gericht von seiner Schuld überzeugt und verkündet schließlich im Mai 2010 das Mordurteil – im Zweifel gegen den Angeklagten?
Ein Kampf gegen das Justizsystem, der im August dieses Jahres mit Genditzkis Entlassung ein Ende findet – vorerst.
Drei Stunden lang dauert das Gespräch mit Manfred Genditzki am 18. November 2022 im Beisein seiner Anwältin Regina Rick. Er beantwortet dabei Fragen von Journalisten, auch meine. Ein persönliches Interview lehnt der 63-Jährige im Vorfeld ab, die Berichterstattung der Medien habe ihn zurückhaltend werden lassen. Darüber hinaus steht ihm sein dritter und hoffentlich letzter Prozess erst noch bevor.
Der folgende Text stellt eine Ausführung Genditzkis Antworten dar und gewährt einen sehr persönlichen Einblick in seine Gefühlswelt und seinen neuen Alltag in Freiheit.
Genditzkis letzter Kaffee in der JVA
Fast 5.000 Tage, über 13 Jahre lang, sitzt Manfred Genditzki seit seiner Verhaftung im Februar 2009 im Gefängnis. Eine Stunde am Tag von 17 bis 18 Uhr hat er Hofgang. In der JVA Landsberg verschafft er sich schließlich einen Job in der Wäscherei. Denn dort darf bzw. muss er aus Hygienegründen jeden Tag nach Dienstschluss duschen gehen. Ein gepflegtes Auftreten ist ihm wichtig, in der Wäscherei kann er seine Kleidung „selber waschen und bügeln, damit ich nicht wie ein Penner rumlaufe“, so Genditzki.
In seiner Zelle hat er ein paar Gewichte zum Heben, außerdem hält er sich mit Liegestützen fit: „Ich bin mit 81 Kilo rein und bin mit 81 Kilo raus. Also habe ich alles richtig gemacht.“ Manchmal spielt er Tischtennis, oft auch Schach, und fängt mit dem Zeichnen an. Die beste Ablenkung ist für Genditzki aber die Arbeit. „Dann grübelt man nicht so viel“, findet er.
Es ist der 12. August 2022, ein Freitag. Genditzki geht wie so oft seiner Schicht in der Wäscherei nach. Alles wie immer, bis ihm ein Beamter etwas nervös den Hörer in die Hand drückt, eine Frau wolle mit ihm sprechen. Am anderen Ende der Leitung ist eine Verwaltungsmitarbeiterin: „Herr Genditzki, das ist mir in 20 Jahren noch nicht passiert, aber Sie können heute packen und Sie sind frei.“
Für Genditzki, der auf diese Situation nicht vorbereitet wurde, erst mal ein Schock: „Dann habe ich gesagt: Jetzt gehe ich erst mal duschen, trinke einen Kaffee und dann gehe ich.“
Seine Kollegen aus der Wäscherei begleiten ihn schließlich bis zur Tür und klatschen, bis er weg ist.
Die erste Umarmung in Freiheit

Vor den Toren der JVA Landsberg erwartet ihn seine Anwältin. Regina Rick teilt der RTL-Redaktion noch am selben Tag mit, wie froh sie ist, dass der Kampf nach knapp zehn Jahren erst mal vorbei ist. „Erst mal“, weil es eine dritte Hauptverhandlung geben wird. Manfred Genditzki ist nun wieder Angeschuldigter auf Basis der ersten Anklageschrift aus dem Jahr 2009. Weil aber kein dringender Tatverdacht mehr besteht, musste Genditzki sofort entlassen werden.
Was treibt nun ein Mensch in den ersten Tagen seiner neu gewonnen Freiheit? Manfred Genditzki entschließt sich, mit dem Auto nach München zu fahren. Er schnappt sich seine Schwester Jutta und ihren alten Opel. „Ein ganz einfaches Auto, wie früher“, schildert Genditzki,„ich bin rein und losgefahren. Das ist einfach, einfach toll. Das ist ein Stück Freiheit.“ Im Telefonat mit seiner Schwester Jutta erzählt sie mir schmunzelnd von der Jungfernfahrt nach fast 14 Jahren. „Einmal Schwimmer, immer Schwimmer, hat er gesagt“, weil er das Autofahren offensichtlich nicht verlernt hat.
Besonders intensiv genießt Genditzki jetzt die Momente mit seiner Familie, seinen Enkeln und Kindern. Nachholen lassen sich die verpassten Jahre allerdings nicht. Seine jüngste Tochter, ein Wunschkind, kommt damals zur Welt, als er bereits im Gefängnis sitzt. Fotos, auf denen sie als kleines Baby zu sehen ist, lassen ihn wehmütig werden: „Heute steht sie da. So. Da kann ich ihr keine Flasche geben oder Windeln wechseln. Die Zeit ist weg und ich krieg die nicht wieder zurück. Das aus dem Kopf rauszukriegen ist das Schlimmste.“
Psychologische Hilfe möchte Manfred Genditzki nicht in Anspruch nehmen, die beste Heilung sei seine Familie, erzählt er.
Zuspruch von allen Seiten
Man kann nur erahnen, wie viel Kraft es kostet, so viele Jahre durchzuhalten und als unschuldiger Mann im Gefängnis nie die Hoffnung zu verlieren. Aufgeben war für Genditzki offenbar keine Option, auch nicht für seine Ehefrau. „Meine Frau ist einmal zu Besuch gekommen und da hat sie zu mir gesagt: ‚Weißt du Manni, ich hab zwei kleine Kinder, ich muss alleine klarkommen, wir müssen beide kämpfen. Also musst du hier drinnen kämpfen und ich kämpf draußen.‘“, erinnert er sich.
Neben seiner Familie bekommt er viel Zuspruch von Freunden, Bekannten und auch Fremden. Ob in Form von zahlreichen Briefen, die ihn während seiner Haftzeit erreichen oder in persönlichen Begegnungen seit seiner Entlassung. „Schön, dass du wieder da bist“, begrüßt ihn eine Kellnerin bei einem Restaurantbesuch.
Trotz vieler positiver Erlebnisse gibt es auch andere Tage. „Es gibt Tage, da sage ich, „Es läuft mir locker von der Hand“, und es gibt Tage, da fällt alles zusammen. Es wird mir alles zu viel, ich habe manchmal Angst, nichts zu schaffen.“ Seine Schwester Jutta meint, es könnte ein Leben lang dauern, bis ihr Bruder, aber auch die gesamte Familie, die Geschehnisse verarbeiten können. „In der Nacht kommt die Grübelei, tagsüber ist er abgelenkt“, erzählt sie mir.
Ablenkung findet Manfred Genditzki in seiner Arbeit bei einer Naturkäserei. Er liefert die Produkte in München und im Tegernseer Tal aus und hilft in der Verpackung. 40 Stunden die Woche, die Konzentration während der Arbeit lässt keinen Raum für negative Gedanken. „Das ist top, die Kollegen sind da alle nett und freundlich“, so Genditzki. Sein früherer Chef habe ihm noch während der Haftzeit einen Job angeboten, falls er mal einen brauche.
Wie (un)gerecht ist das deutsche Rechtssystem?
Manfred Genditzki hätte früher nie geglaubt, dass es in Deutschland zu solch zweifelhaften Urteilen kommen könnte. Er schaute sich sogar gerne Gerichtsshows an, war stolz auf das deutsche Justizsystem. Doch das Bild hat sich gewandelt: „So viele Leute, die außerhalb gekämpft haben für mich, da kann doch so ein Urteil nicht im Namen des Volkes sein, oder?“, fragt sich Genditzki und fügt hinzu: „Ich bin nicht verunsichert, ich bin nur enttäuscht. Ich bin enttäuscht über dieses System.“
Eine nachvollziehbare Haltung, immerhin ist die Chronik seines Rechtsfalls lang:
2010 das Mordurteil. 2011 wird es vom Bundesgerichtshof wieder aufgehoben. 2012 verurteilt ihn dasselbe Gericht erneut wegen Mordes. Es folgt der unermüdliche Kampf von Rechtsanwältin Regina Rick, die Suche nach Zeugen und neuer Gutachten, die Genditzki entlasten. 2019 stellt Rick den Antrag auf Zulassung der Wiederaufnahme. Erst eineinhalb Jahre später, im Dezember 2020, wird der Antrag abgelehnt. Das Landgericht München erklärt die lange Bearbeitungszeit mit der hohen Arbeitsbelastung des zuständigen Schwurgerichts.
Die Rechtsanwältin legt sofortige Beschwerde ein. Wieder vergehen Monate, zwischenzeitlich verstirbt sogar eine wichtige Zeugin. Doch im September 2021 wird der Beschwerde schließlich stattgegeben. Die Beweismittel werden neu überprüft, unter anderem eine von Experten erstellte Computersimulation, die zeigt, dass ein Unfallgeschehen sehr wohl in Frage kommt.
Am 12. August 2022 ist es offiziell: Das Wiederaufnahmeverfahren ist beschlossene Sache und Manfred Genditzki ein freier Mann.
Hinsichtlich dieser Odyssee ist es fragwürdig, wieso der dritte Prozess erneut am Landgericht München l stattfindet – wenn auch in einer anderen Strafkammer, nicht aber in einem anderen Gerichtsbezirk. Ende April 2023 könnte der Prozess starten. Genditzkis Schwester Jutta hofft, dass das Gericht seine Fehler endlich einsieht. Rechtsanwältin Regina Rick zeigt sich auf die Frage, wie groß die Chance auf einen Freispruch steht, mehr als optimistisch: „Nach der Beweisaufnahme im Probationsverfahren ist aus meiner Sicht keine Verurteilung mehr möglich. Herr Genditzki wird freigesprochen werden, da bin ich mir sicher.“
Ein Freispruch, der Manfred Genditzki vielleicht wieder ein Stück weit an ein gerechtes Justizsystem glauben lassen könnte.
Ein Justizsystem, das im Zweifel für den Angeklagten urteilt.