Neues Album "Film, Funk & Fernsehen"Band Welle:Erdball überrascht Fans mit "Gehirnanalyse 4" - "Wir haben Tausende Disketten kopiert"

Die Band Welle:Erdball ist für ihre kultigen Auftritte bekannt.
Die Band Welle:Erdball ist für ihre kultigen Auftritte bekannt.
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von Denise Kylla

Sie sind die Meister des minimalistischen Elektro-Sounds: Welle:Erdball. Seit 29 Jahren tritt die Band aus der Nähe von Hannover jetzt schon als imaginärer Radiosender auf und informiert die Hörer mit ihrer Musik über Themen, die sie für wichtig hält. Krieg, Spaß, Kapitalismus, die Macht der Medien – das Repertoire ist vielfältig. Untermalt werden die Botschaften mit analogen Synthesizer-Sounds und Melodien, die mit dem Commodore 64 kreiert werden. Der ist sogar als fünftes Bandmitglied deklariert. Im Interview mit RTL spricht Sänger Honey über das neue Album „Film, Funk & Fernsehen“, die Bedeutung des Radios und darüber, was er als Künstler für seine Pflicht hält.

Auf Eurem neuen Album "Film, Funk & Fernsehen" sind mehr als 30 Songs. Wie lange habt ihr dafür recherchiert?

Die Corona-Zeit war praktisch für uns, weil wir da sehr viel Zeit hatten, es gab keine Tourneen. Die Zeit haben wir unter anderem dafür genutzt, die Inhalte zu recherchieren. Auf der anderen Seite sind – gerade bei diesem Album – viele Sachen dabei, die schon bei Gründungszeiten vor 30 Jahren auf der Agenda standen. Deshalb kann man gar nicht so genau sagen, wie lange die Recherche gedauert hat.

Künstler Honey beschäftigt sich ausführlich mit Themen, bevor neue Songs entstehen.
Künstler Honey beschäftigt sich ausführlich mit Themen, bevor neue Songs entstehen.
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Für welches Thema auf dem Album habt Ihr besonders lang recherchieren müssen?

Auf dem Album gibt es das Stück „Wendy Walter und die Geschlechtsmaschine“, in dem es um Wendy Carlos geht. Sie hat die Musik für den Film „Tron“ und „Clockwork Orange“ gemacht – ich bin ein Fan des Filmes. Im Abspann steht „Wendy Carlos“, bis dahin kannte ich aber nur „Walter Carlos“ und dachte: Das muss ja die Tochter sein. Ich habe recherchiert und gemerkt, dass Wendy nicht die Tochter, sondern die gleiche Person ist. Sie hat in den 70ern am Valentinstag eine Geschlechtsumwandlung gemacht. Allein das Thema fand ich schon spitze. Und sie hat ja bis heute das meistverkaufte Eletronik-Album der Welt gemacht. Das ist „Switched-on Bach“ von 1968. Sie hat auch den Moog, also den ersten Synthesizer mitentwickelt. Das haben wir benutzt, um auch ein bisschen auf das Thema Gendern einzugehen. Das war schon eine relativ lange Recherche.

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Wie stehst Du persönlich zum Thema Gendern?

Ich finde das ist der falsche Weg. Wenn ich irgendwas zusammenführen will, dann darf ich es doch nicht teilen. Ich darf doch nicht Sachen, die ich in die Normalität führen will, aus dieser herausholen. Und ich glaube, das nervt die Leute nur. Dadurch ändere ich nichts.

Wie geht das denn weiter in der Evolution dieser Idee? Wird es noch mehr Teile geben für blauäugige und braunäugige, für Blonde und Brünette, für Leute, die vegan sind und nicht vegan sind, für Leute, die bei McDonald’s essen und nicht bei McDonald’s essen? Wo ist denn da die Grenze? Da sollte man doch lieber gleich aufhören.

Das neue Album "Film, Funk & Fernsehen" beschäftigt sich mit dem Thema Medien und ist zu Ehren des Jubiläums des C64 entstanden.
Das neue Album "Film, Funk & Fernsehen" beschäftigt sich mit dem Thema Medien und ist zu Ehren des Jubiläums des C64 entstanden.
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Wie sahen die Recherchen zur aktuellen Single "Drogenexzess im Musikexpress" aus?

Das „Film, Funk & Fernsehen“-Thema des Albums beschäftigt sich mit den Medien. Auch im Hinblick auf den damit verbundenen Eskapismus oder die Möglichkeit der Flucht vor der bösen Welt. Und da ist natürlich so ein Musikexpress (Anm. d. Red.: Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt) eine erste Form davon. Mit 14 haben wir da unser Taschengeld hereingesteckt, um Sorgen für fünf Minuten zu entgehen. Dazu zählten dann Sachen wie „ich kriege zu wenig Taschengeld und ich werde in der Schule gemobbt, weil ich kein Benetton-Sweatshirt trage“

Wir haben das Video zu „Drogenexzess im Musikexpress“ erst vergangene Woche gedreht. Ich kann den jetzt sogar bedienen, den Musikexpress.

Woher kommt Deine Faszination für analoge Sounds - und den Commodore 64?

Das rührt hauptsächlich daher, dass ich Kind dieser Generation bin. Ich habe den C64 1984 zu Weihnachten bekommen und das war für mich so, als ob du mir ein Spaceshuttle geschenkt hättest. Das war die Möglichkeit, aus dem Kinderzimmer heraus Firmen zu gründen. Du dachtest, – auch, wenn es im Endeffekt nicht stimmte – dass du mit Computern alles machen könntest.

Und die analogen Klänge parallel dazu, das war genau die Zeit, wo dann Synthesizer-Musik für den Mainstream greifbar war. Das waren dann die End-70er und Anfang der 80er.

Du nimmst als Kind Sachen auf, die du für immer verinnerlichst. Diese Interessen sollten von dir bedient werden, weil sonst betrügst du dich ja selbst, wenn du mit 14 sagst „ich will mal Tarzan werden oder Superheld werden“ und kriegst das in deinen Leben nicht hin.

Was man als Kind gelernt hat – darin ist man Profi. Wenn man eine schöne Kindheit hatte, dann ist sie eine Bastion. Da gab es noch kein Corona, da gab es keine Steuern und kein „ich muss mein Auto abbezahlen“.

Dir war also immer schon klar, in welche Richtung es beruflich gehen soll?

Mir war klar, dass ich Künstler werden will. Zuerst wollte ich aber etwas mit Malerei machen. Damals habe ich die Serie „Ich heirate eine Familie“ geschaut. Der eine war Grafikdesigner – der Mann hat im Keller mit seinem Edding herumgemalt, das fand ich immer klasse. Als ich mit der Schule fertig war, da war nichts mehr mit Edding, da gab es nur noch Computer – und die fand ich als Arbeitsmittel total langweilig. Dann kam die Musik. Dazu kam ich ein bisschen, wie die Jungfrau zum Kinde.

Welle:Erdball senden als imaginärer Radiosender Informationen an ihre Hörer.
Welle:Erdball senden als imaginärer Radiosender Informationen an ihre Hörer.
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Euer Album enthält ziemlich viel Material. War es das Ziel, mehr als 30 Songs dafür zu sammeln oder ist das einfach so passiert?

Insgesamt enthält das Album weit über vier Stunden Audiomaterial. In der Coronazeit hatten wir gar nicht die Möglichkeit, ein Album herauszubringen, weil wir auch keine Tournee dazu hätten machen können. Wir hatten bereits ein halb fertiges Album. Das ist dann zur Hälfte mit eingeflossen. Durch Corona hatten wir aber auch viel Zeit. Damit ist die Fülle zu erklären. Wir machen ja oft sehr viel mehr als andere. Andere machen aus acht Titeln ein Album, wir machen daraus eine Maxi-Single. Das ist ja auch eine ökonomische Sache. Auf eine CD passen 74 Minuten. Wenn du nur acht Stücke mit 23 Minuten darauf packst, was ist dann mit dem Rest? Das ist so, als wenn ich Space Shuttle hätte und damit Brötchen holen fahren würde.

Dem Album "Film, Funk & Fernsehen" liegt eine Diskette mit dem Spiel "Gehirnanalyse 4" bei. Was passiert da?

Es ist ein Spiel für den Commodore 64, der in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum feiert. Er wurde im Januar 1982 auf einer Messe in Amerika vorgestellt. Da wir das Gerät seit jeher benutzen, war klar, dass wir eine ganze CD machen, deren Sound ausschließlich aus dem C64 kommt. Aber das allein war aus meiner Sicht zu wenig für das Jubiläum. Da habe ich gesagt: „Da muss auch ein bisschen Software dazu“. „Gehirnanalyse 4“ ist eine Art Nerd-Olympiade – Mini-Games würde ich sagen. Da kann man mit bis zu vier Spielern Rechenaufgaben lösen und Reaktionstests machen kann.

Aber es gab auch ein Problem. Die Disketten werden seit 20 Jahren nicht mehr hergestellt. Wir mussten viel au Eigenbeständen nehmen, die ich noch auf dem Dachboden hatte – das waren vielleicht 600 Stück. Einige haben wir auch auf Ebay gekauft.

Ist das Programmieren von Spielen Dein privates Hobby?

Wenn meine Mutter Sudoku macht, um ihr Gehirn in Rage zu halten, dann sage ich immer: Mein Pendant dazu ist das Programmieren. Das ist etwas, wo man Gehirnzellen und Synapsen aktiviert, die sonst brachliegen. Da fließen Hobby und Welle:Erdball zusammen.

Es gibt für den C64 weltweit eine große Demo-Szene, die aus alten Hackern besteht. Dort hat der C64 einen Ehrenstatus. Es gibt auch Wettbewerbe, bei denen man etwas gewinnen kann und Partys auf denen etwas vorgeführt wird. Mittlerweile wurde der C64 so weiterentwickelt, dass die Erfinder damals gesagt hätten „das ist gar nicht möglich“.

Hörst Du selbst viel Radio oder sind die Sender zu langweiligen Mainstream-Fabriken geworden?

Wir haben hier NDR 1 laufen, weil der Sender werbefrei ist. Werbung ist der Horror. Die ist immer doppelt so laut, wie der Rest. Da würde ich durchdrehen. Wenn du bei uns in die Toilette gehst, ist da ein Bewegungsmelder, der das Radio automatisch einschaltet – es läuft eigentlich immer. NDR 1 macht das gut für meine Generation, da laufen 80er. Auch der Sprachturnus ist auf meiner Wellenlänge, er nervt nicht. Wetteransagen – Dinge, die eigentlich seriös sind – kommen mir bei manchen Sendern heute vor wie Comedy. Als würde ein verkokster Mario Barth vorm Mikrofon herumspringen und mich anschreien. Das brauche ich morgens wirklich nicht.

Wie siehst du die Debatte zu Songs wie "Layla"?

Das Stück kenne ich. Ich war DJ auf der Hochzeit einer Freundin. Da wurde ich so lange genervt, bis ich dieses Lied gespielt habe. Dort habe ich es dann auch zum ersten Mal gehört. Die Leute sind auf einmal auf die Tanzfläche gestürmt. Ich glaube, dass die Debatte initiiert worden ist. Sie hat der Plattenfirma auf jeden Fall die Portemonnaies gefüllt.

Welche Fernseh-Sendungen schaust Du Dir an?

Ich würde gerne antworten, aber ich habe seit zwölf Jahren nicht mehr Fernsehen geschaut. Auf dem Amphi Festival in Köln habe ich dieses Jahr vor einem Bildschirm gesessen und fünf Minuten ntv geguckt. Wir haben sogar einen verplombten Fernsehanschluss zu Hause, damit wir nicht zahlen müssen. In den 90ern hatte ich meinen ersten eigenen Fernseher. Ab und zu bin ich davor eingeschlafen. Wenn ich aufgewacht bin, lief „Vera am Mittag“. Und ich bin ein Morgenmuffel. Wenn man dann direkt die hochfrequenten Töne und die Thematik hört: Ne! So kann kein schöner Tag anfangen.

Über welche Themen berichtet der perfekte Radiosender?

Das wäre genau das gleiche, das wir auf CD veröffentlichen. Der Name Welle:Erdball ist an das erste überlieferte Hörspiel angelehnt. Es wurde 1928 von Friedrich Walter Bischoff auf einer Grammophon-Schallplatte aufgezeichnet. In diesem Hörspiel geht es um einen imaginären Radiosender namens „Welle:Erdball“. Als wir damals gesagt haben „wir machen jetzt eine Band“, haben wir uns ein klares Konzept hingelegt. Wir wollten die Texte in den Vordergrund stellen und die Hörer informieren.

Es gibt eine große Sache, die man immer wieder vergisst. Der Künstler hat sehr viel Zeit. Ich habe 24 Stunden Zeit am Tag, mich mit irgendwas zu befassen. Diese Zeit hast du nicht, du musst die Hälfte des Tages arbeiten oder schlafen. Ich kann mich viel besser über Sachen informieren. Also hat der Künstler auch so eine Art Pflicht, die Information schön in Unterhaltungsmusik zu verpacken. Genauso arbeiten wir.

Wenn Du heute eine Radiosendung auf die Beine stellen müsstest, was würdest Du berichten?

Die Energiekrise – und natürlich würde ich dem Hörer sagen, dass er dafür selbst verantwortlich ist. Weil wenn wir mit unserem Steuergeld Waffen irgendwo hinschicken, die andere Menschen töten, dann sind wir die Mörder. Ich würde dem Hörer ein bisschen mehr Objektivität eintrichtern und dass man mehr infrage stellen sollte. Nicht zu viel. Aber ein bisschen.