Wie bestraft man jemanden, der seine Taten nicht steuern kann?

Autist belästigt Mädchen (7) sexuell - doch für ihn gibt es keine passende Strafe!

Jonathan (r.) und sein Vater Stephan halten zusammen.
Jonathan (r.) und sein Vater Stephan halten zusammen.
RTL
von Michaela Johannsen

Der 18-Jährige kennt seine Grenzen nicht.
Anfang Dezember 2022 ist Jonathan auf dem Weg zur Physiotherapie, wie jede Woche. Als Autist braucht er feste Routinen. Eigentlich soll er rund um die Uhr von einem Erzieher begleitet werden, doch an diesem Tag ist er alleine. Dann läuft plötzlich ein siebenjähriges Mädchen aus seiner therapeutischen Wohngruppe an ihm vorbei – und Jonathan macht einen Fehler: Er fasst sie an, nur wenige Sekunden. Das was er macht, ist sexuelle Belästigung. Doch wie bestraft man einen Autisten?

Jonathan muss vor Gericht

Jonathan hat die Tat zugegeben, sie tut ihm leid. Mehr hat er zu dem Vorfall nicht gesagt. Viel mehr kann er nicht sagen. „Was dahinter steckt, erfasst er nicht“, erklärt sein Vater Stephan S. im Gespräch mit RTL. „Jonathan kann das nicht erklären. Es fehlt ihm da an der Ausdrucksfähigkeit.“

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Autisten wie Jonathan erleben die Welt anders. Sie können ihr Handeln kaum erfassen und schon gar nicht steuern. Trotzdem muss sich der 18-Jährige vor Gericht für seine Tat verantworten. Denn: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Es ist eine belastende Zeit für den jungen Mann. Seine gewohnten Rituale werden unterbrochen, alles ist ihm fremd und doch weiß er: Es geht nur um ihn und um seine Tat.

Genau deshalb sei der Prozess an sich eigentlich die „beste Strafe“, erklärt Jonathans Rechtsanwalt Dr. Philipp Schulz-Merkel. Durch die für ihn fremden Abläufe vor Gericht begreife er, dass er „einen großen Fehler begangen“ habe. Doch auch für die anderen Prozessbeteiligten ist es eine ungewöhnliche Verhandlung.

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Anwalt: Im Gefängnis „würde Jonathan nicht überleben“

Jonathans Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Philipp Schulz-Merkel
Jonathans Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Philipp Schulz-Merkel

Jonathan umarmt mehrfach seinen Anwalt. Bedankt sich bei dem Richter für die gute Verhandlung. Seinem Vater ruft er immer wieder zu, wie lieb er ihn habe. Alles Zeichen dafür, wie überfordert der 18-Jährige sei, erklärt sein Anwalt. Auch für den erfahrenen Strafverteidiger ist in diesem Prozess nichts wie sonst: „Man muss sich eigentlich auf das Rechtliche konzentrieren und nicht so innig auf den Mandanten.“

Auch das Amtsgericht Schwabach berücksichtigt Jonathans Autismus-Diagnose. „Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist bei Jonathan deutlich herabgesetzt. Dadurch ist er vermindert schuldfähig“, erklärt sein Anwalt. Das bedeutet jedoch nicht, dass der 18-Jährige straffrei bleibt. Daher stellt sich die Frage: Wie kann ein Autist bestraft werden? „Wir müssen ihn bestrafen, aber wir finden keine passende Strafe für ihn“, sagt sein Verteidiger Dr. Philipp Schulz-Merkel . Für ihn steht jedoch fest: Im Gefängnis „würde Jonathan nicht überleben“.

„Autisten fallen durch ein Raster der Justiz“

Das Gericht hat angeordnet, dass Jonathan an einer autismusspezifischen Therapie teilnehmen soll. Dabei soll er lernen, wann er anderen Menschen zu nah kommt und wie er sich in solchen Situationen verhalten kann. Das Problem: „Es gibt keine spezialisierten Einrichtungen, die eine angemessene sexuelle Aufklärung für Autisten anbieten. Es sind vorhandene strukturelle Mängel,“ erklärt Autismus-Experte Professor Matthias Dose. Jonathans Strafe ist im Bundeszentralregister (BZR) eingetragen, er ist im juristischen Sinn vorbestraft.

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Wäre Jonathan bereits 21 Jahre alt und damit im juristischen Sinne erwachsen, hätte er für seine Tat zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder zu einer Geldstrafe verurteilt werden können. Doch auch das sei kein geeigneter Strafrahmen für einen Autisten: „Der Rechtsstaat kommt an seine Grenzen“, sagt sein Rechtsanwalt Dr. Philipp Schulz-Merkel. „Autisten fallen durch ein Raster der Justiz.“ Seine Forderung: Für Autisten müsse es eigene Sanktionen geben. Einschneidende Konsequenzen hat seine Tat für Jonathan aber auch so schon jetzt.

Jonathans Vater gibt die Hoffnung nicht auf

Seit dem Zwischenfall lebt der 18-Jährige nicht mehr in der Kinder- und Wohngruppe, er wohnt bei seinem Vater. Die Heilpädagogische Tagesstätte weigert sich, Jonathan wieder aufzunehmen. „Ich musste ihn abholen, direkt nach dem Übergriff", sagt Stephan S. „Ich musste schauen, wie kriege ich ihn betreut.“ Eine Frage, die den alleinerziehenden Vater bis heute beschäftigt. Denn: In Deutschland gibt es zu wenig Einrichtungen, die geeignet wären für Jonathan.

Die Vorstrafe des 18-Jährigen mache zudem alles noch komplizierter „Mit der Vorgeschichte ist es schwierig für Jonathan, in einer Einrichtung unterzukommen.“ Die verzweifelte Suche des Vaters nach einem Therapieplatz ist bittere Realität, das sei kein Einzelfall, bestätigt Prof. Dose aus seiner Erfahrung als Fachberater für Autismus-Spektrum-Störungen.

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Die Hoffnung will Stephan S. trotzdem nicht aufgeben: Der 47-Jährige wünscht sich für seinen Sohn eine Therapiemöglichkeit, um Jonathan die Chance zu geben, die Grenzen anderer Menschen zu wahrzunehmen und auf deren Signale zu achten. Aber auch an die Gesellschaft hat er einen Wunsch: Dass sie die besonderen Bedürfnisse von Autisten wie Jonathan endlich erkennt.