So ein Interview habe ich in der Form noch nie geführt. Ich treffe Anna Krumpas in Oldenburg im ländlichen Schleswig-Holstein. Seit Monaten verbringt sie ihr Leben im Liegen und im Dunkeln. Für mehr hat sie keine Kraft. Auch mein Besuch ist für die 41-Jährige extrem anstrengend. Aber noch schlimmer:
„ Kein Arzt glaubt einem, kein Mediziner.“
Anna Krumpas fühlt sich von unserem Gesundheitssystem allein gelassen. Ihre Diagnose: ME/CFS oder Chronisches Fatigue Syndrom. Ein Totalausfall des Körpers mit schwerwiegenden Symptomen z.B. nach einer Corona-Infektion. Ich lese diesen Hilferuf ihres Mannes im Internet.
„Notlage, Wir suchen dringend Arzt, Hausarzt., Allgemeinmediziner“
„Auch die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein und unsere Krankenkasse können nicht helfen.
Ich besuche Anna Krumpas an ihrem 41. Geburtstag.
„Hallo, schön dass Sie da sind…schön, dass ich kommen darf.“
Noch vor 2 Jahren war die zweifache Mutter Anna kerngesund, stand mitten im Leben, machte eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin. Sie war tätig auf einer Corona-Station und infizierte sich. Nun ist sie selbst Patientin mit ME/CFS - einer neuroimmunologischen Erkrankung mit chronischer Erschöpfung, die sämtliche Nerven und Zellen des Körpers betrifft. Die Hausärztin soll die Krankheit nicht ernst genommen haben. Statt Schonung soll Anna sich mehr bewegen, der Zustand verschlechtert sich rapide.
„ Wir leben sehr ländlich. Die Ärzte bei uns hier, die kennen diese ganzen Krankheiten einfach nicht so, haben vielleicht auch die Zeit nicht dafür.
„ Je mehr ich versucht habe zu trainieren oder zu machen, umso schwächer wurde ich. Ich habe das selber erst nicht geglaubt und meine Ärztin mir noch weniger.“
Annas Zustand verschlechtert sich weiter, ihr Ehemann Dennis muss seinen Job aufgeben, um sie zu pflegen.
Die Hausärztin, eine Internistin aus Oldenburg, soll Annas Symptome als psychosomatisch begründet angesehen haben. Weil Anna Anweisungen nicht befolgt haben soll, kündigt sie ihr schließlich die Versorgung. Es gibt aber keinen Ersatzarzt auf dem Land. Anna braucht täglich dringend dutzende Medikamente, kann Licht und Lärm nicht ertragen und sie kann nicht mehr essen und trinken. Nur knapp 800ml Flüssigkeit gelangen per Magensonde in ihren Körper, sonst würde sie verdursten. Ein Intensivpflegefall, für den sich keiner zuständig fühlt.
„ Sobald die die Krankheit gehört haben, um was es geht, haben die im Grunde gleich abgeblockt.
„Jetzt gibt es ja diese spezialisierte ambulante Palliativversorgung, die ja eigentlich auch für schwere chronische Erkrankungen möglich ist.
Warum können die hier nicht tätig werden?
„Eine direkte Aussage, die getroffen wurde, war, dass die Krankheit im Grunde nicht direkt tödlich ist. Also es ist nicht abzusehen, dass man daran bald stirbt.“
Mein Eindruck: Anna stirbt nicht aber sie lebt wie eine Sterbende und das jeden Tag. Ihre Erkrankung ME/CFS scheint völlig durch das Gesundheitssystem zu fallen. Zu wenig Fachwissen, zu wenig Ärzte und zu wenig Versorgungsstrukturen. Ich bin erschüttert und versuche zu helfen.
Vorher möchte ich wissen: ist die Versorgung Pflegebedürftiger in der Stadt zwingend besser als auf dem Land?
Ich treffe den 54-jährigen Bauleiter Jochen Springborn und seine Ehefrau in Berlin, die selbst nicht vor die Kamera möchte. Sie ist an Multipler Sklerose erkrankt und seit über 20 Jahren pflegebedürftig. Jochen Springborn arbeitet zu Hause in Vollzeit. Nebenbei pflegt er seine Frau und sagt selbst: Angehörige übernehmen den Großteil, weil es sonst keiner macht.
„Natürlich haben wir in Großstädten oder in Städten generell eine größere Versorgungsstruktur, mehr Ärzte. Haben Sie damit auch mehr Auswahl und könnten tatsächlich auch Ärzte wechseln, wenn irgendwas schief geht?
„Prinzipiell ja. Das Problem ist halt auch in der Großstadt dann die Entfernung, weil ja die Krankenkasse, die dann den Transport bezahlen muss, ja die nicht bis zum Unendlichen bezahlt, sondern nur bis zu einer sinnvoll geeigneten Arztpraxis.
"Also eine freie Arztwahl haben sie so in der Form eigentlich auch nicht?
„Freie Arztwahl, die jeder in Deutschland hat, hat man nur wenn man gesund ist.“
„ Wie viel Unterstützung ist denn in unserem Gesundheitssystem für Ihren konkreten Fall vorhanden? Zu wenig. (…) Das heißt, es wird nur bei Pflegegrad 5 maximal 2200 Euro im Monat bezahlt.. Die Versorgung meiner Frau durch den Pflegedienst, der kommt viermal am Tag, kostet im Monat um die 5000 bis 5300 Euro. Das heißt, alles was über die 2200 Euro hinausgeht davon, bezahle ich selber.“
Jochen verdient als Bauleiter der evangelischen Schulstiftung in Berlin gut aber
den Hauptteil seines Gehalts steckt er in die Pflege. Er hat Angst davor, in die Armut zu rutschen. Die finanziellen Reserven und auch seine Kräfte sind erschöpft, auch weil er ähnlich wie Anna und Dennis für jede Unterstützung kämpfen muss.
„ Ich als Angehöriger der Pflegebedürftigen oder Kranken als Betroffene muss sich auf die Suche machen und schauen, weil es gibt keinen Lotsen, es gibt keine Hinweise, wo wende ich mich mit welchen Problemen sinnvoller Weise hin.“
Inzwischen geht man von 5 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland aus. Zwei Drittel davon werden zu Hause versorgt – zumeist durch Angehörige. Jochen Springborns Schicksal und auch das von Dennis Krumpas sind kein Einzelfall. Sie übernehmen die volle Verantwortung für einen geliebten Menschen, auch weil das System sie nur bedingt unterstützen kann.
Nicole Knudsen von der Interessenvertretung „Wir pflegen!“ macht sich Sorgen.
„ ..Weil die häuslich Pflegenden, die Angehörigen, den Pflegenotstand, den wir ja schon haben, komplett alleine auffangen müssen. Was bedeutet das? Das bedeutet eine 24/7 Pflege in der Häuslichkeit (…) quasi desozialisieren müssen und den ganzen Tag, 24 Stunden für ihre Betroffenen zur Verfügung stellen.“
Und wenn dann noch Hausärzte die Versorgung und damit den Zugang zu wichtigen Medikamenten kündigen oder die notwendige Pflege fehlt, kämpfen die Angehörigen zusätzlich im Behördendschungel um Pflegegrade, Kostenerstattungen - überhaupt Unterstützung.
Um in Annas Fall Mut zu machen, habe ich einen Hausarzt per Telemedizin organisiert. Mit Telemedizin kann jeder Patient besonders ortsunabhängig mit praktisch jedem Arzt eine Sprechstunde per Videotelefonat wahrnehmen.
Die Registrierung ist kinderleicht. Ausweis scannen, Termin anmelden, fertig. Herr Dr. Gaber aus Nordrhein-Westfalen betreibt selbst eine digitale Praxis und glaubt fest daran, dass in Zukunft gerade auf dem Land Videosprechstunden eine große Hilfe sind.
„Welche Möglichkeiten…Ich würde selbst auf dem Land vermuten..so eine Praxis würde …definitiv nutzt.“
Aber in Annas Fall und bei der noch unerforschten Krankheit ME/CFS sind viele Mediziner scheinbar überfragt. Ich nehme Kontakt mit der Kassenärztlichen Vereinigung auf, denn die soll eigentlich die ambulante Versorgung gewährleisten.
„ Wir als Vereinigung, wir haben nicht den Auftrag zu vermitteln, wir können es auch nicht. Das ist Aufgabe der Krankenkassen.“
Die Krankenkasse verweist zurück auf die Kassenärztliche Vereinigung.
„Es ist geregelt, dass die Kassenärztliche Vereinigung helfen muss, die Versorgung sicherzustellen. Das sind die Experten, dafür bekommen die ihr Honorar.“
Ein Ping-Pong-Spiel der Verantwortlichkeiten und Anna geht es immer schlechter.
„ Ich habe gestern meinen Herzschrittmacher bekommen.“
„…Wir haben hier eine Patientin, die wirklich krank ist…“
...und noch immer hat sie keine Palliativversorgung (…), der ihr das verschreiben wird.“
Ich erfahre, dass sich doch eine Landärztin gemeldet haben soll. Eigentlich müsste jetzt die Palliativversorgung folgen, denke ich. Doch wieder vergehen Wochen. Ein Gutachter der Krankenkasse soll schon wieder die Palliativpflege abgelehnt haben. Begründung: Anna stirbt ja nicht.
Ich erlebe den langwierigen und einsamen Weg, den betroffene Patienten immer wieder auf sich nehmen müssen und gebe mich als RTL Reporterin bei der zuständigen Krankenkasse zu erkennen. Und plötzlich geht alles ganz schnell!
„Jetzt muss im Mittelpunkt stehen, dass wir der Dame helfen, egal wie. Die Aufarbeitung machen wir natürlich parallel.“
Die Krankenkasse bestätigt: Frau Krumpas bekommt jetzt die Palliativversorgung, die sie braucht.
„ Da freue ich mich sehr….“
„… ja wir haben Hausarzt, SAPV und das ist ganz viel wert glaub ich.“
Mehr kann die Medizin momentan leider noch nicht für Anna tun, die Forschung läuft. Aber in puncto Pflegefall-Versorgung sind meiner Meinung nach jetzt alle gefragt - Politik, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung – damit wir die Betroffenen und ihre Angehörigen mit ihrem Schicksal nicht weiter so allein lassen.