Tränen, Überforderung, Frust
Erzieherin packt aus: „Wir müssen dauernd Babys weinen lassen - weil es nicht anders geht"

Eine Erzieherin schlägt Alarm!
Sie ist erst Ende 20, und trotzdem stellt sie bereits ihre Berufswahl infrage: Eine junge Erzieherin hat sich an RTL gewandt, weil sie bei der Arbeit immer frustrierter ist. Viele Kinder kann sie nicht angemessen fördern, teilweise sogar nicht auf deren Bedürfnisse eingehen, weil wegen Personalmangels schlicht die Zeit fehlt. Zu welchen Situationen das führt, wie sehr sie und ihre Kolleginnen darunter leiden und was sich ihrer Meinung nach dringend ändern muss.
Erzieherin sollte Babys „einfach weinen lassen"
Kathrin* erinnert sich noch genau an jenen Moment, im dem sie zum ersten Mal ihre Arbeit infrage stellt. Damals arbeitete sie Vollzeit in einer Krippe – ausschließlich Kinder unter zwei Jahren wurden hier betreut. Für insgesamt 15 Babys waren „an guten Tagen drei, in der Regel aber oft nur zwei Erzieher da“, berichtet sie RTL.
„Wenn eine Kollegin oder ein Kollege alle 15 Kinder nach und nach wickelte, war die andere mit den restlichen 14 Kindern allein in der Gruppe. Da war es üblich, ein kleines Baby regelmäßig weinen lassen zu müssen, wenn andere Kinder Hilfe benötigten.“
Kathrin litt unter der Situation – schließlich war eines der Kinder gerade einmal vier Monate alt. Sie sprach ihre Leitung auf die Situation an und äußerte Bedenken. Doch: „Sie meinte, man müsse das Baby zwischendurch weinen lassen, damit es sich daran gewöhnen könne, allein einzuschlafen.“ Kathrin ist noch heute schockiert: „Das ist entgegen allem, was pädagogischer und bedürfnisorientierter Arbeit entspricht.“
Diese bedürfnisorientierte Arbeit – also, dass die Betreuung in erster Linie an den Kindern ausgerichtet ist – sei zwar Grundlage der Erzieher-Ausbildung. Mit der Realität habe das aber nichts zu tun – denn das Konzept sei „in einer Regelkita, in der zwei Erzieher 25 Kinder betreuen, leider schwer zu bewältigen“.
Diese Probleme sieht die Erzieherin
Kathrin sieht vier große Baustellen, die die Arbeit sowohl für die Erzieherinnen als auch Kinder problematisch machen:
Personalmangel
Mehrsprachigkeit und Migrationshintergründe als zusätzlicher Mehrarbeitsaufwand
Eine für sie „kaum zu bewältigende Anzahl an Kindern mit Frühförderbedarf oder integrativem Betreuungsbedarf“ und den damit verbundenen bürokratischen Aufwänden
Der Umgang mit den wenigen Kitaplätzen für nicht bedürftige Familien und Kinder
Dabei betont sie, dass sie es grundsätzlich gut findet, wenn Kinder mit Migrationshintergrund oder Frühförderbedarf in Gruppen integriert werden. Schließlich sei „Deutschland geprägt von Diversität und Vielfalt“. Das Problem sei jedoch, dass Personal fehle, um diese Kinder angemessen einzugliedern.
Bei Kindern mit Migrationshintergrund sei vor allem die Sprachbarriere ein Problem. „Die Erzieher sind darauf angewiesen, dass die Kinder schnellstmöglich die Sprache erlernen. Sich die Zeit zu nehmen, den Kindern essenzielle Worte wie Essen, Toilette oder Hilfe beizubringen, ist ein Luxusgut und oft kräftezehrend“, erzählt sie.
Um überhaupt in den großen Gruppen zurechtzukommen, müssten andere Kinder den Erziehern helfen.
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„Das ist eine Zumutung“
Tiefergehende Förderung? Unmöglich. „Wenn ein Kind anfängt, mit einem anderen zu streiten, fehlt oft die Zeit und Kraft, ihnen zu ermöglichen, ihre Streitigkeiten zu klären. Ihre Problemlösestrategien werden nicht gefördert.“
Auch die Selbstständigkeit der Kinder gehe unter. „Wie sollte es anders sein, wenn immer alles schnell gehen muss. Da werden den Dreijährigen die Jacken zugemacht oder während des Mittagessens das Essen fix auf den Teller gelegt.“
Weiter erzählt sie: „Die Kinder wollen seit Wochen einen Ausflug machen, was zu zweit nicht machbar ist. Die Worte Nein und Stopp sind wahrscheinlich die häufigsten, die wir zu den Kindern sagen. Im Grunde kommt jeder Entwicklungsbereich zu kurz, da die Kraft und Zeit fehlt. Das ist eine Zumutung.“
Besonders schlimm sei die Situation ihrer Meinung nach für Kinder, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Sie bräuchten eigentlich eine intensive Betreuung. Doch die sei oft schlicht nicht möglich. „Das bedeutet, dass beispielsweise ein Kind, das regelmäßige Wutausbrüche hat, die sowohl verbal als auch körperlich werden, und das immer wieder wegrennt, auch mal fast ein Jahr lang nicht die Hilfe erhält, die es bräuchte.“
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Erzieherin weint in der Mittagspause, weil sie Angst hat, zu wenig zu leisten
Nicht nur die Kinder, auch die Erzieher leiden. „Wir sind maßlos überarbeitet und gestresst.“ Das führe zum einen dazu, dass die Geduld gegenüber den Kindern nachlasse. Zum anderen verschärft es den Personalmangel, denn „manche Kollegen sind durchaus vier bis acht Wochen krankgeschrieben“.
Tatsächlich gilt fast ein Fünftel der Erzieher laut einer Studie der katholischen Fachhochschule aufgrund von sehr starken beruflichen Stressbelastungen als Hochrisiko-Gruppe für Burnout. Für Kathrin ist das wenig überraschend.
Sie schildert, wie sie in einer Mittagspause mit einer Kollegin spricht. „Plötzlich, wie aus dem Nichts, fängt meine Kollegin an zu weinen. Schluchzend erzählt sie von ihren Gefühlen. Von der Angst, nicht gut genug zu sein, nicht genug zu leisten, die Kinder nicht so betreuen zu können, wie sie es bräuchten.“
Kathrin möchte lieber bessere Arbeitsbedingungen als mehr Gehalt
Trotz dieser enormen Belastungen für die Erzieherinnen und die Kinder komme es selten vor, dass Gruppen vorübergehend geschlossen werden. Zwar sieht Kathrin, dass die Betreuung für viele Eltern extrem wichtig ist. Geht ein Kind nicht in die Kita, kann in der Regel ein Elternteil nicht zur Arbeit gehen.
Aber sie sagt auch: „Wenn eine Gruppe auf Teufel komm raus trotz fehlender Kollegen Notbetreuung anbietet, heißt das nicht, dass es auch richtig ist.“
Sie macht sich dann Sorgen, wie sie die Kinder richtig versorgen kann. „Was mache ich, wenn ein Kind auf der Toilette Hilfe braucht? Was mache ich, wenn ein Kind eine volle Windel hat? Ein Kind plötzlich Fieber bekommt? Ein Kind wegläuft oder sich ernsthaft verletzt?“ Fragen, auf die sie keine Antwort hat.
Sie wünscht sich, dass sich die Situation schnell ändert. Dafür müssten sich die Kita-Leitungen einsetzen. Aber auch die Politik. „Es nicht getan mit einer verbesserten Vergütung. Wenn ich gefragt werde, ob ich mehr Gehalt will oder verbesserte Arbeitsbedingungen? Dann entscheide ich mich für Letzteres.“
*Hinweis: Kathrin heißt eigentlich anders. Zum Schutz der Erzieherin haben wir sie anonymisiert, der vollständige Namen ist der Redaktion bekannt. Ihre Schilderungen basieren auf persönlicher Erfahrung und können nicht pauschal auf alle Kinderbetreuungsstätten bezogen werden – stehen jedoch symptomatisch für lang bekannte Probleme.