So politisch habe ich mir die Berliner Fashionweek nicht vorgestellt.
"Sag mir, wo mein Bruder ist." – "Ich suche meine eineiige Zwillingsschwester." – "Wo bist du?"
Designer Kilian Kerner präsentiert heute seine neue Kollektion: DDR. Die gestohlenen Kinder.
"Es geht um den angeblichen Säuglingstod und um Zwangsadoptionen, die in der DDR passiert sind. Und wenn man sich ich diese Geschichten durchliest und anhört. Das schmerzt unwahrscheinlich und ich bin gespannt, wie das ist, heute mit so vielen Leuten in einem Raum zu sein."
Der Laufsteg gehört heute nicht nur den Models. Der Verein „Gestohlene Kinder DDR“ hat die Aktion unterstützt. 40 Betroffene sind seiner Einladung heute gefolgt. Sie suchen ihre Verwandten, nach Menschen, die als Kind in der DDR bei anderen Familien aufgewachsen sein sollen. Mit Antje und Kerstin stehe ich seit einem Jahr etwa in Kontakt.
"Ich weiß aber das sie lebt, ich habe sie gesehen, aber noch nicht gefunden."
Die Geschichten von Antje und Kerstin ähneln sich stark und berühren mich. Ich finde das, was sie behaupten, unfassbar.
Antje Noack: "Damals in Cottbus geboren 1972 und drei Tage nach der Geburt hieß es, dann kam der Arzt zu meiner Mutter und hat gesagt, das eine Kind hat es nicht geschafft. Und es war da, wurde von einem Krankenhaus beerdigt. Meine Eltern haben die Rechnung bezahlt."
Tochter Cleo unterstützt die Suche nach ihrer Tante. Bei TikTok erreichte sie fast zwei Mio. Menschen mit ihrem Aufruf. Was wohl die Show heute bewirkt? Auch für die Models ist das heute etwas ganz Besonderes.
"Mir sind zum Beispiel fast die Tränen gekommen und ich musste mich wirklich konzentrieren. Das ist superemotional und auch schön, so was aufzugreifen."
Dass es in der DDR tatsächlich politisch motivierte Zwangsadoptionen gab, bestätigt eine 2021 von der Bundesregierung geförderte Forschungsstudie. Die Wissenschaftler beschäftigen sich darin auch mit Säuglingen, die für tot erklärt und weggegeben wurden. Doch da scheint die Aufklärung schwieriger. Aber nicht unmöglich, wie der Fall von Eike zeigt. Durch einen Zufall erfährt er, dass er eigentlich Daniel heißt und adoptiert ist. Jahrelang ging seine leibliche Mutter Regina davon aus, er sei kurz nach der Geburt verstorben.
Laut Betroffenenorganisationen gehen 2.000 Menschen in Deutschland davon aus: Mein Kind -mein Bruder oder meine Schwester – lebt. Wie schwierig die Recherchen sind, merke ich schnell. Krankenhausakten von damals wurden vernichtet; Zeitzeugen sind verstorben oder kaum ausfindig zu machen. Ich möchte deshalb öffentlich nach den eineiigen Zwillingsschwestern von Kerstin und Antje suchen.
Meine Kollegin Maria unterstützt mich dabei. Wir starten Aufrufe auf den Social-Media-Kanälen von RTL. Verteilen Flyer deutschlandweit – auch in öffentlichen Verkehrsmitteln. Unseren Aufrufen schließen sich Zeitung und das Radio an. Und tatsächlich zu Kerstin Zwilling erhalten wir Hinweise. Dazu später mehr.
Ich besuche die 60-Jährige. Denn ihre Geschichte überzeugt mich immer mehr. Kerstin wohnt 15 Kilometer von Dresden entfernt. Dort arbeitet sie als Krankenschwester. Zweimal ist ihr das Herz auf dem Weg zur Arbeit stehen geblieben. 2015 und 2017. Da glaubt sie, ihre Schwester gesehen zu haben.
"Es ist wie so eine Krankheit, dass man, wenn man durch Dresden fährt. Jeden Radfahrer oder jeder Radfahrerin hinterherschaut und guckt, ob sie rote Haare hat und ob sie die Schwester sein kann."
Immer öfter wurde sie von Bekannten verwechselt. Und an dieser Kreuzung schaute sie sich sogar einmal selbst in die Augen.
"Bin so mit 50 hier lang gefahren und hab nur das Gesicht gesehen und hab gedacht, das ist dein eigenes Gesicht. Und dann hat mich wie so ein Blitz durch den ganzen Körper getroffen und ich habe sofort gewusst, dass sie das ist."
Seit 25 Jahren recherchiert sie selbst. Kerstin kam am 11. Dezember 1964 als Drilling in einer Dresdner Privatklinik auf die Welt. Zwei Monate zu früh. Die erstgeborene Schwester Birgit, sie selbst und ihre eineiige Schwester Anke wurden auf die Kinderintensivstation der heutigen Uniklinik Dresden verlegt und damit von der Mutter getrennt.
"Sie hat auch alle drei gesehen. Während mein Vater, der uns jeden Tag besucht hat in der Klinik. Der hat nur mich und meine zweieiige Schwester gesehen."
Kinder von System-Kritikern der DDR, die den Staat verleumdeten oder gar einen Ausreiseantrag stellten, wurden damals zur Adoption freigegeben, damit sie politisch korrekt erzogen werden konnten. Auch ihre Familie stand unter Beobachtung der Staatssicherheit. Wegen ihrer Verwandtschaft, die vermutlich den Kindern das Leben rettete.
"Also offensichtlich war das von vornherein geplant, dass das Kind separiert wird und uns weggenommen wird. Weil unsere Lungen noch nicht fertig ausgebildet waren. Und das gab es in der DDR nicht, dieses Medikament. Und da wir aber unsere Verwandten alle in Westberlin hatten, haben unsere Großeltern für uns, für ihre drei Enkelkinder und noch weitere Kinder die Medikamente besorgt."
Sieben Tage nach der Geburt soll Ihre eineiige Schwester Anke gestorben sein. Die Mutter rang zu der Zeit nach einem Blutsturz um ihr Leben, der Vater völlig überfordert mit der Situation.
"Dann hat er, hat er mündlich zugestimmt, dass der Leichnam für medizinische Zwecke zur Verfügung gestellt werden kann und hat aber nichts unterschrieben. Und es gibt auch eine Sterbeurkunde."
Nach 50 Jahren erhält sie auch einen Obduktionsbericht, der Fragen offenlässt. Bspw. fehlt der Vorname des verstorbenen Kindes.
Zurück zu unserer Suche nach Kerstins Zwilling. Es braucht also einen lebenden Beweis.
Meine Kollegin Maria hat mich bei den Aufrufen im Netz unterstützt – und da gab es viel Feedback. Ebenso auf den Zeitungsartikel und dem Aufruf im Radio. Es kamen auch E-Mails an, dass sie, dass es Menschen gibt, die ein ähnliches Schicksal haben. Also eine Person hat mir geschrieben, ich suche auch nach meinem vermeintlich toten Zwilling und ich fand es interessant. Auch das RTL Verifizierungsteam unterstützt uns.
Aber am Ende führt kein Hinweis zu Kerstin oder Antjes Zwilling. Immer weniger glaube ich daran, dass sie am Leben sind. Bis zu diesem Moment: Jemand hat Kerstin auf unseren Flyern wieder erkannt, sagt aber, das ist nicht Kerstin, sondern Liane. Und mit der war sie 1978 im Kinderferienlager. Und mit der Frau, die das Kind wiedererkannt hat, bin ich jetzt verabredet.
Freistand Telefonat:
"Ich kenne die, ich kenne das Mädchen, es war sehr sportlich. Und die ist nämlich eigentlich adoptiert. Ich habe aber die Eltern nie gesehen. Ich bin sprachlos."
Ich finde heraus, dass es über diese Ferienfreizeiten noch Akten gibt. Im Archiv der TU Dresden. Anscheinend ein guter Ansatz, denn ich sei nicht die Erste, die hier nach Angehörigen recherchiert. Die Archivarin hat mir angedeutet, dass Adoptionen in der DDR manipuliert sein sollen – das findet sie immer wieder heraus. Und dass es dann ein Problem gab, wenn die Stasi involviert war.
Leider endet diese Spur hier wieder. Denn das Kind aus dem Ferienlager ist erst vier Jahre nach Kerstin geboren worden.
Trotzdem: Antje und Kerstin werden weitersuchen – so wie hunderte andere auch. Vor allem aber wollen sie mit Berichten wie unseren aufmerksam machen, damit endlich Licht in dieses dunkle Kapitel gebracht wird.