Expertin erklärt, was Eltern von Betroffenen tun könnenWegen Dyskalkulie gemobbt - Lauras Weg durch die Zahlenhölle

Laura Dargusch
Laura Dargusch wurde wegen ihrer Rechenschwäche gemobbt – deswegen sagt sie: „Diese Kinder benötigen Liebe und Aufmerksamkeit!“
Privat, Privat, Privat

Wenn das Verständnis für Zahlen und Mengen komplett fehlt!
Preise berechnen, pünktlich sein, sich in der Stadt zurechtfinden - all das ist für Laura eine unfassbare Herausforderung. Denn Laura hat Dyskalkulie. Eine Störung des Zahlen- und Mengenverständnisses, die bereits im Kindesalter festgestellt wird.

Mengen, Zahlen, Abstände: Für Laura ein großes Problem

Wie weit ist es noch? Auch wenn die Berlinerin Laura Dargusch eine Bahnlinie kennt, stellt sie sich diese Frage immer wieder. Ebenso im Auto: „Wenn jetzt eine Anzeigetafel kommt und ich werde 20 Kilometer weiter gefragt, wie viele Kilometer es noch sind, dann habe ich das schon vergessen und schätze einfach vollkommen falsch“, erzählt die 27-Jährige. Die zweifache Mutter und Hausfrau meldet sich bei uns, nachdem sie bei RTL Punkt 12 einen Beitrag über das gesehen hat, was auch ihr das Leben schwer macht und für jahrelanges Mobbing sorgte: Dyskalkulie.

Bei dieser Störung denken die meisten an klassische Rechenprobleme.

Doch bei Laura geht es viel weiter. Auch die Orientierung leidet massiv: Gänzlich fremde Orte versucht Laura zu meiden. „Weil ich da Angst habe, mich wirklich zu verlaufen oder auch an Orten, die ich kenne, nicht mehr in meine gewohnte Umgebung zu kommen“, erzählt sie uns im Interview. „Wenn sich etwas verändert hat oder nicht mehr da ist, bin ich komplett hilflos und versuche sofort, mich wieder an etwas zu binden, damit ich den Ort behalten kann.“

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„Meiner Mutter wurde mitgeteilt, dass ich nie richtig werde rechnen können“

Ob die Orientierungslosigkeit tatsächlich mit der Rechenschwäche zusammenhängt: Dazu gibt es wenig gesicherte Untersuchungen, aber es könnte durchaus sein.

Fest steht: „Schwierigkeiten mit Zeit und Uhr sind bei Rechenschwachen sehr häufig“, bestätigt Bettina Schwarz, Leiterin des Lerntherapeutischen Zentrum Rechenschwäche (LZR) in Köln. „Die Zeitrechnung erfolgt im 60er-System und nicht im dezimalen Stellenwertsystem.“ Oft hätten die Betroffenen auch kein Gefühl dafür, wie lange zehn Minuten, eine Stunde und so weiter dauern.

Bei Laura tritt das Problem im Grundschulalter auf, in der zweiten Klasse. Im Duden Institut für Lerntherapie in Berlin werden daraufhin Tests durchgeführt. „Danach wurde alles ausgewertet und meiner Mutter mitgeteilt, dass ich Dyskalkulie habe“, erzählt Laura. „Und ich würde nie richtig rechnen können.“

In der Tat: Bruchrechnen, Wurzeln ziehen, Kopfrechnen – für Laura immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Mit entsprechenden Folgen für ihr Selbstwertgefühl: „Einerseits fühle ich mich dumm und ungeschickt, andererseits möchte ich aber leben wie alle anderen auch und einen Beruf ausüben, der mich erfüllt und mir Spaß macht.“

Grundlegende Struktur der Mathematik bleibt unverstanden

Dyskalkulie wird von Fachleuten wie Bettina Schwarz als ein falsches Verständnis von Mathematik betrachtet. Betroffene Schülerinnen und Schüler haben demnach große Schwierigkeiten beim Erlernen, Verstehen und Anwenden der Grundrechenarten.

„Eine Rechenschwäche fällt oft erst in der zweiten oder dritten Klasse auf“, erklärt sie. „Die Kinder halten Zahlen für Nummern und bewegen sich im Zahlenraum ‘auf und ab zählend’, ohne jegliches Mengenverständnis.“

Die Zahlwörter werden inhaltsleer verwendet – wie ein Alphabet.

Die Aufgabe 23 minus acht ist für Rechenschwache so, als würde man fragen: Was ist der achte Buchstabe vor dem R? „Sie müssen zwangsläufig zählend nach der richtigen Stelle suchen“, erklärt die Expertin. „Rechenschwache Schülerinnen und Schüler suchen dann immer nach Strategien, um zu Ergebnissen zu kommen, haben aber die Struktur der Mathematik nicht verstanden.“

Mit dramatischen Folgen für die Kinder – denn sie haben oft das Gefühl, am meisten zu üben, aber am wenigsten zu können.

Mit jedem Schuljahr würden sie dann weiter „abgehängt“ und verlören den Anschluss an den mathematischen Schulstoff. „Oft verweigern sie Mathematik, manche werden aggressiv oder auch ängstlich und klagen über Bauch- oder Kopfschmerzen, wenn eine Klassenarbeit ansteht.“

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Eure Erfahrung ist gefragt!

Rechenstörungen können auch im Erwachsenenalter noch behandelt werden

Etwa fünf Prozent aller Grundschüler in Deutschland sind von Rechenschwäche betroffen. Bei Erwachsenen geht man von einer hohen Dunkelziffer aus. Denn Betroffene neigen dazu, ihre Probleme im Umgang mit Zahlen aus Scham zu verbergen. Diagnostiziert wird die Störung in spezialisierten Einrichtungen und von Psychologen sowie Kinder- und Jugendpsychiatern.

Im LZR in Köln lege man im Gegensatz zur fachärztlichen Diagnostik vor allem Wert auf das Erkennen der Fehlerqualität, so Schwarz. „Das hat den Vorteil, dass man den Ausgangspunkt der Störung des mathematischen Verständnisses findet und damit eine verlässliche Grundlage für die Therapieplanung hat.“

Bei der Berlinerin Laura hat es nie eine längere Therapie gegeben. „Ein Therapeut hat mit mir ein bisschen Mathematik gemacht – das war’s“, erzählt sie. „Aber eine direkte Lernmethode für mich war das nicht. In der Schule kam ich weiterhin nicht gut mit. Es wurde nichts besser und leider gab es danach auch keine weitere Therapie.“

Überhaupt: Eine ausführliche Beratung gab es damals auch nicht. Dabei könnte Laura auch heute noch geholfen werden: „Rechenstörungen können auch im Erwachsenenalter mit guten Erfolgsaussichten behandelt werden“, sagt Expertin Schwarz. „Um eine Rechenschwäche zu überwinden, ist allerdings ein umfassender Lernprozess notwendig, der nur gelingt, wenn er fachkundig angeleitet und begleitet wird.“

Laura appelliert: „Hört euren Kindern zu!“

Was Laura sich jetzt rückblickend von Eltern betroffener Kinder wünscht? „Hört euren Kindern zu, schimpft nicht, wenn sie es nicht verstehen – sondern seid aufmerksam und verständnisvoll. Diese Kinder benötigen Liebe und Zuwendung. Nur so kann ihnen geholfen werden!“

Einen Schnelltest für Dyskalkulie gibt es nicht. Bei Schwierigkeiten sollten Eltern zunächst mit den Lehrern sprechen und sich dann von einer Fachstelle beraten lassen, so Schwarz.

Dort könne in einem Vorgespräch geklärt werden, ob eine Diagnostik angezeigt ist. Auch beim zuständigen Jugendamt könne man sich beraten lassen. Sollte eine Lerntherapie notwendig sein, bestehe dort die Möglichkeit, eine Kostenübernahme nach KJHG § 35a zu erhalten.