Drama-Story unseres Para-Stars
Horror an der Hürde: "Tante Irmie" läuft den Depressionen davon

An die südafrikanischen Jugend-Meisterschaften 2009 erinnert sich Irmgard Bensusan ungern. Die damals 18 Jahre alte Leichtathletin bleibt an einer Hürde hängen und verdreht sich Knie und Unterschenkel. "Ich habe so laut geschrien, ganz Pretoria muss das gehört haben", erzählt sie über jene Szene, die ihr Leben verändern sollte.
"Es ging mir wahnsinnig schlecht"
Bensusan hoffte monatelang, dass alles gut wird - vergeblich. Der rechte Unterschenkel bleibt wegen einer Nervenschädigung teilweise gelähmt. Es sei wie "ein eingeschlafener Fuß, der nie wach wird", sagt sie. Ihren Fuß nennt sie liebevoll "Schluffi", doch nach der bitteren Diagnose folgen dunkle Jahre für Bensusan. "Es ging mir wahnsinnig schlecht. Ich habe mich abgeschottet, wollte mit niemandem reden. Ich hatte durch meine Behinderung meine Träume verloren." Bensusan leidet an Depressionen. Sie habe sich "selbst gehasst", sei drei Jahre durch dieses "schwarze Loch durchgegangen". Im vergangenen Jahr machte sie ihre Krankheit öffentlich.
Erst durch den Sport kommt sie aus diesem tiefen Loch heraus. Sie sei der Krankheit "quasi davongelaufen. Erst, als ich die Behinderung akzeptiert habe, kamen neue Ziele und neue Träume", betont sie im SID-Gespräch: "Der Sport war eine zweite Chance auf diese Träume."
Sie zieht 2012 durch Vermittlung ihrer in Hannover geborenen Mutter nach Leverkusen und startet dort für Bayer. Heute ist Bensusan eine der besten Para-Sprinterinnen der Welt. Bei den Paralympics in Rio holt "Tante Irmie", so ihr Spitzname, Silber über 100, 200 und 400 Meter. In Tokio zählt die 30-Jährige über 100 und 200 Meter - die 400 Meter wurden aus dem Programm genommen - zu den Gold-Hoffnungen des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS).
"Meine Ziele sind mein Geheimnis"
Doch vor ihrem ersten Start am Dienstag hält sich Bensusan mit großspurigen Ansagen zurück. Sie konzentriere sich "nur auf mich. Meine Ziele sind mein Geheimnis. Das erzeugt nur Druck und Erwartungen." Und das ist das letzte, was die Athletin aus Leverkusen braucht. Zumal die Gesellschaft ja gar nicht wisse, "unter was für einem Druck wir stehen. Wir sind nicht die Super-Helden. Wir sind normale Menschen."
Normale Menschen - mit Vorbild-Charakter. Mit ihrer Beichte, an Depressionen erkrankt zu sein, wolle sie schon erreichen, "dass sich Menschen in ähnlichen Situationen Hilfe holen. Ich habe vier, fünf Jahre verloren. So etwas möchte ich wirklich verändern, indem ich meine Geschichte erzähle." Dass Stars wie Naomi Osaka oder Michael Phelps inzwischen offen über ihre Depressionen sprechen, findet Bensusan deshalb gut. Aber dies sei "ein sehr privater Bereich, das muss jeder für sich selbst entscheiden".
Bensusan hat sich entschieden. Sie hat ihre Einstellung zum Leben geändert, sie habe ihren Weg gefunden, sagt sie. Sie müsse zwar auch heute noch wegschauen, wenn andere Athleten über Hürden laufen, sagt Bensusan. Inzwischen sei sie aber sogar "sehr froh, dass mir dieser Unfall passiert ist. Das hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin." (tno/sid)