Autorin Melanie Pignitter im Interview"Wir müssen nicht traumatisiert sein, um ein verletztes inneres Kind zu haben"

Portrait of unhappy small girl indoors, crying.
In den meisten Menschen versteckt sich ein verletztes, inneres Kind.
istock/ozgurcankaya

Weint euer inneres Kind immer noch?
Die Wahrscheinlichkeit dafür ist relativ hoch. Im Interview mit RTL.de, erklärt die Spiegelbesteller-Autorin Melanie Pignitter, warum das so ist, und wie man das innere Kind heilt. Die Mental- und Selbstliebetrainerin gibt nämlich in ihrem neuen Buch „Wenn das Kind immer noch in dir weint“ zahlreiche Erklärungs- und Lösungsansätze für die alten Wunden, die viele von uns immer noch mit sich herumschleppen.

RTL.de: Woher weiß ich, dass ich ein verletztes inneres Kind habe?

Melanie Pignitter: Dafür gibt es unterschiedliche Symptome. Eines der Hauptsymptome ist die Schmerz-Reinszenierung. Das heißt, man erlebt im Leben in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Menschen immer wieder dieselbe Enttäuschung, denselben Schmerz und dieselbe Verletzung. Dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich dieser Schmerz schon seit sehr vielen Jahren reinszeniert, also in der Kindheit entstanden ist. Wir tun unbewusst alles dafür, dass es immer wieder zu der Situation kommt. Da gibt es Mechanismen im Unterbewusstsein, die dann Einfluss auf unser Verhalten haben, sodass uns das Verhalten immer wieder zu bestimmten Menschen führt, um denselben Schmerz und dasselbe Problem zu erleben. Das was dahinter steckt, bezeichne ich als inneres Kind, nicht weil das innere Kind denselben Schmerz noch mal erleben will. Das innere Kind will zu einem Happy End zu kommen. Die Schmerzwiederholung ist eines der Hauptanzeichen, aber es gibt auch Bewältigungsstrategien, die darauf hinweisen.

Wenn das Kind in dir noch immer weint: Wie du die alten Wunden endlich heilst von Melanie Pignitter
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Welche sind das?

Mehr als 95 Prozent unserer Bewältigungsstrategien stammen aus unserer Kindheit. Häufig ist die Harmoniesucht: Wir können nicht Nein sagen und wollen es anderen recht machen. In der Kindheit haben wir gelernt, dass wir zu wenig Liebe bekommen, wenn wir unartig sind. Sind wir aber brav, dann werden wir gemocht. Eine weitere Strategie ist die Flucht. Es gibt Menschen, die bei Streit, zum Beispiel wenn es um Gefühle geht, sofort die Flucht ergreifen. Das kann von der Kindheit kommen, wenn die Eltern laut gestritten haben. Das Kind konnte ja nicht ausziehen, sondern musste eine Bewältigungsstrategie suchen, zum Beispiel sich unter dem Bett verstecken - die Flucht. Die Strategien sind so stark, dass wir sie in das Erwachsenenalter mitnehmen. Dort sind sie nicht, hilfreich, sondern lösen noch mehr Probleme aus. Wenn man immer flüchtet bei einem Streit, ist das auch kontraproduktiv. Es gibt auch den Angriff als Bewältigungsstrategie, den Leistungssdrang oder das Helfersyndrom. Menschen mit Helfersyndrom glauben, sie seien dann wichtig für andere, wenn sie ihnen helfen, Mit Perfektionismus versuchen wir zu beweisen, dass wir gut genug sind. Auch Misstrauen ist eine Schutzsstrategie.

Kann man auch ein verletztes Kind haben, wenn man eine gute Kindheit hatte?

Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass jemand gar keine Verletzungen aus der Kindheit hat. Bis zu unserem 18. Lebensjahr hören wir 180.000 Autosuggestionen über uns, also Sätze die zu oder über uns gesagt werden. Eltern sprechen heute mit ihren Kindern bewusster, aber trotzdem sind da viele Sätze dabei, wie zum Beispiel: „Das darfst du nicht“, „Das kannst du nicht“ etc. Was heute vielleicht für uns nicht mehr als Verletzung erscheint, kann eine für unser inneres Kind gewesen sein. Wir müssen nicht traumatisiert sein, um ein verletztes inneres Kind zu haben. Uns muss also nichts Schlimmes passiert sein. Ich kann liebe Eltern gehabt haben, die sich bemüht haben, alles mir zu ermöglichen aber auch viel arbeiten mussten. Das Kind hat damals trotzdem die Schlussfolgerung gezogen: „Mama und Papa haben fast nie Zeit also bin ich nicht so wichtig“. Eltern sind auch nur Menschen. Ohne Fehler Kinder zu erziehen, halte ich für sehr unwahrscheinlich.

A little girl rests in a hammock and eats cherries in the summer.  Summer in the village.
Eine gute Kindheit kann trotzdem zu unbewussten inneren Verletzungen führen.
istock/Almaje

Schuld am verletzten inneren Kind, sind nun mal sehr häufig die eigenen Eltern. Was tun, wenn man wütend auf diese wird?

Die Wut auf die Eltern kommt dann oft hoch. Aber das ist normal. Die Arbeit mit dem inneren Kind ist dazu da, dass man seine Gefühle reguliert. Denn Kinder können Gefühle nicht so gut leben und regulieren. Deswegen bleiben solche Gefühle dann in uns stecken. Es ist okay, dass da Wut hochkommt. Man sollte nicht zu den Eltern gehen und Vorwürfe machen. Die sind auch nur Menschen. Wir machen heute als Eltern auch Fehler. Die Eltern haben sich im Vergleich zu den (Ur-)Großeltern meistens schon wahnsinnig weiterentwickelt und es viel besser gemacht, aber haben auch selbst Verletzungen und Werte mitbekommen. 99,5 Prozent aller Eltern wollen für ihr Kind nur das Beste. Sie haben es nicht besser gewusst. Das sollte man im Hinterkopf haben. Ich empfehle einen Wutbrief an die Eltern zu schreiben mit allen Vorwürfen, die man ihnen macht. Den sollte man nicht abschicken. Das Unterbewusstsein nimmt es so wahr, als wenn die Wut frei geworden ist. Merke: Eltern können immer nur das mitgeben, was sie selbst gelernt haben.

Sie schreiben in ihrem Buch auch von verschiedenen Liebessprachen.

Wir Menschen haben immer eine Neigung zu ein oder zwei Liebessprachen. Wir tendieren dazu, die Liebe, die wir als Kind nicht bekommen haben, an unsere Kinder weiterzugeben. Mein Vater ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Für sich hat er die Liebessprache Geschenke entwickelt. Er hat uns sehr beschenkt und wir konnten eigentlich alles haben. Meine Liebessprache war aber eher Zweisamkeit. Das war also ein Missverständnis. So etwas gibt es häufig.

Wie heile ich mein inneres Kind?

Da gibt es viele verschiedene Ansätze. Ich verfolge den Ansatz der Bewusstwerdung. Das Erkennen ist der erste Schritt zur Heilung. Es ist nicht einfach ein Charakterzug, dass ich so harmoniebedürftig bin, sondern es ist eine Folge. In dem Moment, wo ich das erkenne, habe ich die Möglichkeit, es zu verändern. Danach geht es um das Re-Parenting. Das ist ein Begriff aus der Psychotherapie. Die Verletzungen des inneren Kindes entstehen aus einem Mangel, der damals schmerzhaft war. Die Idee beim Re-Parenting ist es, dass der Therapeut die Rolle der Eltern einnimmt. Er nimmt eine Nachbeelterung vor und nährt den Klienten nach über Worte. Er gibt das, was damals gefehlt hat. Unser Unterbewusstsein kann nicht unterscheiden, ob es wahr oder inszeniert ist.

Ich bin keine Therapeutin aber versuche diese Nachernährung zu geben. Ihr könnt mit dem Buch herausfinden, welche Kernverletzungen ihr habt und welche Bewältigungsstrategien ihr lebt. Im Buch gibt es außerdem Links zu Audios, in denen ich zu eurem inneren Kind spreche. Das ist eine Methode die sehr effizient ist, weil sie mit einem Erlebnis und nicht nur Gedankenarbeit verbunden ist. Zur Arbeit mit dem inneren Kind gehört auch die Arbeit an den inneren Überzeugungen. Wenn die innere Überzeugung lautet: „Ich muss immer etwas leisten, damit ich wertvoll bin“, dann machen wir das und gönnen uns keine Pausen mehr, bis wir im Burnout landen. Deswegen ist es wichtig, an diesen Glaubenssätzen zu arbeiten und sie zu durchbrechen. Im Buch mache ich das mit einer imaginären Gerichtsverhandlung, wo ich Fragen stelle in Bezug auf den entsprechenden Glaubenssatz, die dann beantwortet werden. Dann spricht einiges dagegen und ihr beginnt zu bezweifeln, ob der Glaubenssatz der Wahrheit entspricht.

Family having enjoyable memories and bonding moments the beach  on their summer vacation
Für Kinder sind die Eltern die wichtigsten Bezugspersonen.
Dejan Ristovski, Dejan Ristovski

In ihrem Buch schreiben Sie: „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Was meinen Sie damit?

Da steckt das Phänomen dahinter, dass wir die Augen schließen und unseren letzten Urlaub Revue passieren lassen. Dann glaubt unser halber Körper und unser ganzes Unterbewusstsein, dass es gerade passiert. Das merken wir daran, dass wir zu lächeln beginnen, das heißt, wir erleben den Urlaub gerade noch einmal, obwohl es vorbei ist. Genauso kann man auch seine Kindheit umschreiben. Man kann sein inneres Erlebnis umprogrammieren, weil das Unterbewusstsein nicht zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden kann.

Was können wir vom inneren Kind lernen?

Es gibt nicht nur das verletzte, sondern auch das gestärkte innere Kind. Fast alle Kinder haben wunderbare Eigenschaften und die stecken immer noch in uns. Wir können sie uns daher ins Bewusstsein rufen und in unser Leben einbauen, um es freudvoller und authentischer zu machen. Kinder sind offen. Sie können sagen, wen sie lieb haben und wen nicht. Kinder sind schamlos ehrlich. Wir reden um den heißen Brei herum und können nicht Nein sagen. Kinder sagen: „Ich will nicht zum Opa, der ist langweilig“. Das ist zugegeben ein bisschen hart, aber wir können uns trotzdem von dieser Ehrlichkeit eine Scheibe abschneiden. Wir sollten ehrlicher kommunizieren und nicht nur sagen, was andere hören wollen. Kinder heulen auch drauf los und denen ist es egal, wer dabei zuschaut. Auch wir können uns verletzlich zeigen. Bevor Kindern von den Eltern und in der schule eingetrichtert wird, dass Eigenlob stinkt, loben sie sich selbst gerne und das haben wir auch in uns. Kinder leben im Hier und Jetzt. Sie entdecken beim Spielen so viele Dinge, betrachten Einzelheiten, die wir gar nicht sehen. Kinder leben in ihrer eigenen Realität. Wir können das auch, aber wir müssen es nur tun – präsent sein und die Welt mit allen Details erforschen.

Wie kann man das innere Kind im Alltag wieder zum Leben erwecken?

Man kann sich über Hobbys mit dem inneren Kind verbinden: Das Lieblingsbrettspiel wieder auspacken, Luftballons kaufen, Schlitten fahren, Hula-Hoop-Reifen nutzen, Ball oder Minigolf spielen, Das erweckt den kindlichen Anteil in uns. In den Zoo gehen, Karaoke singen, Gärtnern – all das sind Dinge, die man als Kind gerne getan hat.

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