Eine hypothetische Gefahr für Europa
Waldbrände bei Tschernobyl 2020: Dr. Alex Rosen erklärt die Gefahrenlage
Im Interview erklärt Dr. Alex Rosen, warum die Waldbrände in der Ukraine auch für uns in Deutschland gefährlich werden könnten.
Radioaktivität ist immer gefährlich - es gibt keinen Schwellenwert
Dr. Rosen ist Vorstand des Vereins Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges - Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (ippnw). Diese Organisation hat im Jahr 1985 für ihr Engagement den Friedensnobelpreis erhalten.
Das Interview führte die Journalistin Sabrina Hübscher am 21. April per Videochat.
Wie ist die aktuelle Situation der Brände bei Tschernobyl?
Wir sprechen von Waldbränden, bei denen Rauch in nahe gelegene Städte, wie zum Beispiel Kiew, ziehen kann. Die Luftqualität in Kiew ist aktuell die schlechteste von allen Städten der Welt. Die Leute müssen zu Hause bleiben.
Gleichzeitig ist die Waldgegend um Tschernobyl eine ganz besondere, weil dort noch sehr viel radioaktiver Niederschlag von dem Supergau 1986 liegt. Deshalb besteht die Gefahr, dass diese radioaktiven Partikel mit der Hitzeentwicklung in die Atmosphäre gewirbelt und dann mit Wind und Wolken verbreitet werden können.
Aktuell passiert das in sehr, sehr geringem Maße. Wir sehen in der Ukraine, aber auch im Rest von Europa einen minimalen Anstieg der gemessenen Cäsium 137 Konzentration. Das reicht, Gott sei Dank, noch nicht, um ernsthafte gesundheitliche Gefahr darzustellen.
Aber wir wissen auch, dass die Waldbrände, die dort bereits seit zwei Wochen wüten, sich auch auf Regionen ausweiten können, wo die Strahlenwerte deutlich höher sind, also beispielsweise auf den Sarkophag über Reaktor 4, auch die Abklingbecken von Reaktor 1 oder 3. Und natürlich auch auf Gebiete, wo mehr radioaktiver Niederschlag ist. Und dann kann sich die Situation schlagartig ändern und dann können auch relevante Mengen an radioaktiver Strahlung in Wolken transportiert und mit dem Regen niedergeschlagen werden.
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Bedeuten die Waldbrände bei Tschernobyl eine Gefahr für Deutschland?
Es ist eine hypothetische Gefahr für den Rest von Europa da. Es hängt immer sehr davon ab, wie die Windstärke und wie die Windrichtung ist.
Wenn die Waldbrände sich jetzt ausbreiten sollten und auch das Reaktorgebäude bzw. den Sarkophag erfassen sollten, dann besteht die Gefahr für andere Teile Europas, auch für die Bundesrepublik Deutschland, dass Radioaktivität hierhingebracht werden kann.
Ob das in einem Ausmaß geschieht, der gesundheitlich relevant oder schädigend wäre, das sei dahingestellt. Aktuell sieht es, Gott sei Dank, noch nicht so aus. Aber jetzt ist der Zeitpunkt, an dem man diese Brände zum Erliegen bringen muss, damit diese Gefahr in den nächsten Tagen nicht noch entsteht.
Wie gefährlich sind die Feuer bei Tschernobyl für die Ukraine?
In den letzten Tagen haben wir vor allem einen Nord- bzw. Nordwestwind gehabt, das heißt die radioaktive Strahlung ist nach Informationen des Meteorologischen Instituts der Ukraine vor allem in den Süden des Landes geblasen worden.
Wie gesagt: Die Ukraine misst in Kiew erhöhte Strahlenwerte, allerdings in einem so niedrigen Bereich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass dadurch ernsthafte gesundheitliche Schäden entstehen.
Es gibt keinen Schwellenwert, unterhalb dessen Strahlung ungefährlich wäre. Jede zusätzliche Strahlenbelastung birgt immer eine Gefahr. Aber je höher diese ist, desto größer ist die Gefahr.
Unsere große Sorge ist eben, wenn höher kontaminierte Areale von Wald, Wiesenland aber natürlich auch die Gebäude in Tschernobyl betroffen wären. Dann könnte die Ukraine und vor allem die Hauptstadt Kiew, die ja nur 100 Kilometer entfernt von den Waldbränden liegt, tatsächlich relevante Mengen an radioaktiver Strahlung abbekommen.
Wie wirkt sich die Radioaktivität von Tschernobyl auf Menschen aus?
Wir sprechen in Tschernobyl vor allem von radioaktivem Niederschlag durch den Supergau, das sind Stoffe wie Cäsium 137 oder Strontium 90. Das sind radioaktive Partikel, die mit Rauchwolken transportiert werden und dann von Menschen eingeatmet werden können, oder wenn sie auf Wasser oder Nahrungsmittel landen, dann auch in den Körper mit aufgenommen werden können.
Im Körper können diese Stoffe das umliegende Gewebe schädigen. Sie setzen sich fest, das Strontium beispielsweise in den Knochen, und strahlen das umliegende Gewebe an, können zu Zellzerfall führen oder zu Mutationen - also zur Krebsentstehung.
Strontium macht Knochenkrebs und Leukämie, während Cäsium 137 vor allem dafür bekannt ist solide Tumore, also Krebserkrankungen im Gewebe zu verursachen.
Wie soll die Politik auf die Waldbrände bei Tschernobyl reagieren?
Die Waldbrände wüten schon seit mehr als zwei Wochen. Es ist höchste Zeit, dass jetzt alles getan wird, dass diese Waldbrände endlich unter Kontrolle gebracht werden.
Die EU, insbesondere auch Deutschland, haben eine großes Interesse, dass diese Waldbrände nicht noch mehr außer Kontrolle geraten. Die Bundesregierung hat bereits Hilfsmittel in die Ukraine geschickt: 15 Kilometer Feuerwehrschläuche und spezielle Löschfahrzeuge. Aber ich denke, es ist jetzt wirklich eine gesamteuropäische Verantwortung, der Ukraine beizustehen, und dafür zu sorgen, dass diese Waldbrände jetzt endlich nach mehr als zwei Wochen unter Kontrolle gebracht werden.
Wie werden sich die Feuer bei Tschernobyl weiter entwickeln?
Es ist schwer da Prognosen abzugeben. Letztendlich ist es eine Frage der Trockenheit, der Windstärke und der Windrichtung.
Wir hatten letzte Woche eine Situation, in der es so aussah, als würden die Brände unter Kontrolle gebracht werden. Da hatte es geregnet und der Wind war nicht mehr so stark. Am letzten Donnerstag begann alles wieder von neuem mit neuer Windstärke und starker Trockenheit.
Es wäre tatsächlich anmaßend, jetzt eine Prognose zu wagen. Ich kann nur sagen: Je schneller man die Brände unter Kontrolle bringt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich relevante, verseuchte Areale betroffen sind, und desto geringer ist das Risiko, dass sich radioaktive Strahlung in großem Maß verbreitet.
Wie boxt sich Vitali Klitschko als Bürgermeister von Kiew durch die Krise?
Wie der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, mit den Bränden in Tschernobyl und der Coronakrise umgeht, können Sie auch hier lesen.