Kriminalpsychologin Lydia Benecke erklärt:
Sexueller Missbrauch von Kindern: Deshalb werden Mütter zu Täterinnen
Tabuthema: Frauen als Täterinnen
Der jüngste Fall von sexuellem Missbrauch an einem 12 Jahre alten Mädchen aus Karlsruhe hat Schlagzeilen gemacht. Vor allem weil die Täterin eine Frau ist. Die 47-Jährige soll die Taten gefilmt und die Videos auch an Dritte weitergegeben haben. Dass Frauen – und Mütter – zu Täterinnen werden galt lange als Tabuthema. In der polizeilichen Kriminalstatistik rangieren entsprechende Fälle im unteren einstelligen Bereich. Wie hoch die Dunkelziffer ist und warum Frauen sexuellen Missbrauch begehen, erklärt Kriminalpsychologin Lydia Benecke im Interview mit RTL.
Eine Mutter vergewaltigt ihre Tochter: Wie oft kommt eine Vergewaltigung dieser Art tatsächlich vor?
Lydia Benecke: “Die Forschungslage liefert hierzu keine sicheren Zahlen. Sexueller Missbrauch durch Frauen und besonders durch Mütter ist für die Opfer häufig noch schambehafteter als der durch männliche Täter. Daher werden solche Taten noch seltener angezeigt, als die von Männern begangenen“.
Mit welchen Maßnahmen bringen Mütter ihre Töchter in solchen Fällen zum Schweigen? Wie wird der Missbrauch gerechtfertigt oder gar normalisiert?
“Missbrauchstäter - ob männliche oder weibliche - nutzen häufig ihre persönliche Beziehung zum Kind, um es zu missbrauchen. Das grundsätzliche Vertrauen des Kindes und seine Bindung an die Bezugsperson werden von Missbrauchtäter*innen aus dem sozialen Umfeld des Kindes gezielt zur Manipulation eingesetzt. Häufig werden Grenzen des Kindes Stück für Stück überschritten und das Kind wird zwischendurch mit Zuwendung und Geschenken dafür "belohnt", die Grenzüberschreitungen über sich ergehen zu lassen.
Oft wird dem Kind dabei auch der falsche Eindruck vermittelt, es sei selbst verantwortlich für den Missbrauch. Manchmal wird auch angedroht, dass die Familie zerstört wird und die missbrauchende Bezugsperson das Kind für immer verlässt, weil sie ins Gefängnis muss, wenn das Kind sich jemandem anvertraut. Weil die Kinder in solchen Missbrauchsszenarien die missbrauchende Bezugsperson trotz allem häufig lieb haben und nicht verlieren wollen, ist auch diese emotionale Abhängigkeit ein wirkungsvolles Druckmittel.“
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Welche Motive stecken hinter dem Verhalten der Mutter? Wo ist der "mütterliche Instinkt“ geblieben?
“Die Forschungslage zu Missbrauchstäterinnen zeigt, dass sie meistens viele Auffälligkeiten in ihrer Lebensgeschichte und ihren psychischen Eigenschaften aufweisen. In den Lebensgeschichten der Täterinnen sind häufig frühe und langwierige eigene Traumatisierungen zu finden. Die Formen reichen von chronischer Vernachlässigung über emotionale und körperliche Misshandlungen bis zu eigenen Erfahrungen sexuellen Missbrauchs als Opfer. Viele weisen psychische Störungen wie Persönlichkeitsstörungen, eine Posttraumatische Belastungsstörung oder Angststörungen auf. Ebenso findet man häufig auffälligen Konsum von Alkohol und / oder Drogen. All dies ist selbstverständlich keine Entschuldigung für den Missbrauch und viele Menschen, die unter den genannten Störungen leiden, werden niemals zu Missbrauchstäter*innen. Die Mischung an Auffälligkeiten zeigt aber, dass diese Frauen häufig aufgrund ihrer problematischen Lebensgeschichte anders fühlen, denken und auch handeln als andere Frauen. Ihre Besonderheiten machen es ihnen leichter, Taten zu begehen, die sich die meisten Menschen nicht vorstellen können.
Die Motive von sexuell missbrauchenden Frauen können sehr unterschiedlich sein. Manche Täterinnen genießen die Macht über das der Frau auf allen Ebenen unterlegene Kind, manche spüren eine besondere sexuelle Befriedigung durch den Missbrauch, manche empfinden durch den Missbrauch eine von ihnen ersehnte Nähe, manche nutzen Missbrauch zur Aggressionsabfuhr und manche handeln aus Habgier (im Sinne der Vermarktung). Häufig liegt eine Kombination solcher Motive vor, wobei sich die Täterinnen meistens selbst nicht im Klaren darüber sind, warum sie den Missbrauch begehen. Sie finden für sich manchmal Rechtfertigungen wie Einsamkeit, ein ‘besonderes Verhältnis’ zum missbrauchten Kind oder die vermeintliche Idee, ‘dem Kind etwas beizubringen, was es später brauchen kann’. Solche Rechtfertigungsstrategien verdecken die eigentlichen Motive. Die genauen Motive werden vielen erst im Rahmen einer Straftätertherapie bewusst. Wenn Täterinnen mit einem Partner zusammen missbrauchen, dann müssen die Beziehungsdynamik und die mit ihr einhergehende Motivlage beider Täter genau geprüft werden“.
Wie kann sich der Missbrauch auf die Zukunftsplanung des zwölfjährigen Mädchens auswirken? Ist es möglich, dass sie aufgrund des Missbrauchs selber niemals Mutter werden will?
“Der Missbrauch durch einen Elternteil erschüttert das Vertrauen des Kindes in andere Menschen natürlich tief. Häufig empfinden die Opfer in solchen Fällen viele widersprüchliche Gefühle, die schwer auszuhalten und verwirrend sind. Es ist daher wichtig, dass Opfer zeitnah eine professionelle therapeutische Unterstützung bekommen, um das Erlebte verarbeiten zu können. Wenn das Kind sowohl therapeutisch unterstützt wird als auch in eine Lebensumgebung mit verlässlichen Bezugspersonen kommt, in der es das Vertrauen in Menschen langsam neu erproben und erlernen kann, dann können spätere Beziehungen und auch eine gesunde eigene Familiengründung gelingen“.
Kann das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter jemals wieder 'normal' werden?
“Im Rahmen einer Therapie können Opfer auch klären, ob sie jemals eine Aussprache mit dem missbrauchenden Elternteil wünschen oder ob ein dauerhafter, totaler Kontaktabbruch sinnvoller erscheint. Manche Opfer wünschen sich irgendwann im Laufe ihres Lebens wieder Kontakt zu dem betreffenden Elternteil. Ob und in welcher Form dies möglich sein kann, hängt vom konkreten Fall ab und sollte im Rahmen der Therapie besprochen werden. Ein völlig normales Eltern-Kind-Verhältnis ist hier allerdings nicht herstellbar“.