Deep Web: Anonyme Parallelwelt im Internet
Tummelplatz für Kriminelle?
"Wir suchen einen großen Anbieter von Hasch, Weed, Ecstasy, Speed und LSD" – was sich zunächst anhört, als wäre es nicht für fremde Ohren bestimmt, wird an einem Ort tagtäglich von Tausenden gelesen: im Deep Web. Hier gibt es weder Regeln noch Kontrollen, dafür aber einhundertprozentige Anonymität. Wie sonst könnten Internetnutzer wie der oben zitierte User 'Unbekannter' nach einer "vertrauenswürdigen und verlässlichen Geschäftsbeziehung in Nordrhein-Westfalen oder nahem Grenzgebiet" suchen?
Foreneinträge wie diese sind im unsichtbaren Netz (Hidden Web) – besser bekannt als Deep Web – keine Einzelfälle, sondern gang und gäbe. Wer Kreditkartendaten, die neuesten Hollywoodfilme oder gar einen Auftragsmörder benötigt, ist davon auch nur einen Mausklick entfernt. Es klingt auf den ersten Blick nach einem Tummelplatz für Kriminelle im Internet, dabei ist das Deep Web viel mehr als das, erklärt Axel Kossel vom Computermagazin 'c’t': "Es handelt sich um Bereiche im Internet, die nicht frei zugänglich sind und von Suchmaschinen auch nicht gefunden werden."
Seriöse Zahlen über die Ausmaße der digitalen Parallelwelt gibt es keine, doch es soll um ein Vielfaches größer sein als der sichtbare Teil des Netzes (Visible Web). "Der Großteil des Deep Webs sind riesige Datenbanken, beispielweise von der EU oder NASA, zu denen man nur über Passwörter Zugriff hat", sagt Kossel RTL Aktuell Online. Er macht keinen Hehl daraus, dass bestimmte Bereiche "bisweilen auch für kriminelle Aktivitäten genutzt werden".
Umso erstaunlicher ist, dass man zum Betreten dieser geschlossenen Zirkel kein Hacker und schon gar kein Auserwählter sein muss. Das sprichwörtliche 'TOR' zum Deep Web steht jedem offen. Mit der gleichnamigen kostenlosen Software (TOR = The Onion Routing) surft jeder Internet-Laie anonym durchs Netz. Die Zwiebel steht stellvertretend für die zahllosen Verschleierungsebenen, die der PC-Client permanent durchläuft – Server-Verbindungsknoten auf der ganzen Welt, die den Usern ihr Schattendasein garantieren. Kurz gesagt: Die ständig wechselnde IP-Adresse macht eine Identifikation in den Datenautobahnen des Deep Webs nahezu unmöglich.
Das kommt gut an: In Ländern wie Iran, China und Russland erfreut sich das Anonymisierungsprogramm zur Umgehung staatlicher Zensurapparate großer Beliebtheit. Und auch in Deutschland steigt die Nachfrage nach dem Zwiebel-Netzwerk. Surften im Dezember 2011 noch 33.836 Deutsche täglich unerkannt durchs Netz, waren es im Januar schon 45.733 – ein Anstieg von 26 Prozent. Nur im Iran und den USA gibt es mehr Nutzer.
Anonymous kämpft gegen Kinderpornographie
Doch 'TOR' ermöglicht nicht nur Anonymität im Netz, sondern auch Zugriff auf Bereiche, die den Suchmaschinenriesen verborgen bleiben. Als Schaltstelle und Herz des unsichtbaren Webs fungiert das sogenannte 'Hidden Wiki'. Ab hier heißt es: "Willkommen in der rechtsfreien Zone, Willkommen in der Anarchie." Gaunerherz, was willst du mehr?
Wer eine große Auswahl an verschiedenen Drogen und Waffen sucht, sollte beim Online-Marktplatz 'Silk Road' (Seidenstraße) vorbeischauen. Käufer zahlen hier nicht mit Dollar oder Euro, sondern mit der sogenannten Online-Währung Bitcoin. Hierfür gibt es im Deep Web eigene Devisenmärkte, die als Wechselstuben agieren (sieben Dollar = ein Bitcoin). So bietet 'Hidden Wiki' für jedes Klientel den richtigen Link: vom Computernerd über den Waffenhändler bis zum Dissidenten.
Dass diese Kommunikationsplattform zunehmend zum Kleinanzeigenmarkt und zur Kontaktbörse für Kriminelle verkommt, ist einem Großteil der Internet-Aktivisten ein Dorn im Auge. Weitaus mehr beunruhigt die unsichtbaren User jedoch das immense Angebot an kinderpornographischen Inhalten, die unter dem Schutzmantel der Anonymität in aller Öffentlichkeit angeboten und nachgefragt werden.
Die Abteilung ZaRD (Zentralstelle für anlassunabhängige Recherche in Datennetzen) des Bundeskriminalamtes registriert jährlich 600 bis 800 strafrechtlich relevante Sachverhalte, die im verborgenen Netz stattfinden. "Bei etwa 70 Prozent dieser Fälle geht es um den Besitz oder Handel mit kinderpornographischen Inhalten", sagt Sandra Clemens vom BKA.
Längst haben Pädophile die Vorteile des Deep Web erkannt und Teile davon zu ihrem Spielplatz gemacht. Dass "im Netz agierende Straftäter ein zunehmend professionelles Verhalten an den Tag legen", gibt man beim BKA jedenfalls offen zu. Einen großen Anteil daran haben öffentlich zugängliche Anonymisierungsdienste wie 'TOR', die "dem Wunsch nach Verschleierung und Abschottung nicht unwesentlich Vorschub leisten", schreibt das BKA weiter auf seiner Homepage.
Im rechtsfreien Raum des Internets, wo Strafverfolgungsbehörden die Hände gebunden sind, übernimmt seit längerem die Hackergruppierung 'Anonymous' die Aufgabe der Anstandspolizei. Vor allem Anbieter und Abnehmer von kinderpornographischem Material nimmt 'Anonymous' ins Visier und handelt. So hat das Hackerkollektiv im Oktober letzten Jahres mit der 'Operation Darknet' eine versteckte Pädophilen-Plattform attackiert und 1.500 Benutzernamen sowie den Server-Standort des Forums veröffentlicht.
Am 31. Januar 2012 legte Anonymous die gesamte Startseite des 'Hidden Wiki' lahm und hinterließ folgende Botschaft: "Im 'Hidden Wiki' findet sich mehr Kinderporno-Material als intellektuelle Debatten. 'Hidden Wiki' ist nur eine weitere Gelddruckmaschine und keine Plattform für wahre Freiheit. Freunde, lasst die letzte Insel der Freiheit nicht zu einem Geschäftsmodell verkommen" – einem Geschäftsmodell, dessen krimineller Energie offenbar keine Grenzen gesetzt sind.
Von Benjamin Seebach