Exklusive Zahlen aus Grünen-Anfrage
Bundesregierung nimmt nur halb so viele Flüchtlinge auf, wie sie könnte
von Philip Scupin
Vor genau drei Monaten ist das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos abgebrannt. Jetzt wird klar: Die Bundesregierung ist mit ihren Zusagen zur Aufnahme von Flüchtlingen nach dem Feuer deutlich hinter den Möglichkeiten in Deutschland zurückgeblieben. Aus einer Antwort der Regierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion, die RTL exklusiv vorliegt, geht hervor: Die Bundesländer wären dazu bereit gewesen, mehr als doppelt so viele Menschen aus Griechenland aufzunehmen wie die Bundesregierung.
Asylpolitik: Seehofer blockt Bereitschaft der Bundesländer
Laut der Antwort haben die Länder im September die Aufnahme von 3.709 bereits anerkannten Flüchtlingen zugesagt, der Bund beließ es aber bei 1.553. Darüber hinaus hätten die Länder 544 unbegleitete Minderjährige aufgenommen, während die Bundesregierung über ein EU-Kontingent lediglich 150 einreisen ließ. Innenminister Horst Seehofer (CSU) verweist immer wieder darauf, dass Asylpolitik Sache des Bundes ist. Zu weiteren Aufnahmen aus Griechenland ist die Bundesregierung laut der Antwort auch weiterhin nur dann bereit, wenn die EU gemeinsam vorgeht.
Aus der Antwort geht außerdem hervor, dass inzwischen alle 150 Minderjährigen in Deutschland eingetroffen sind. Darüber hinaus sind bislang 149 anerkannt Schutzberechtigte ins Land geholt worden. Laut Bundesregierung konnten 36 Personen aus dem geplanten Kontingent nicht aufgenommen werden, weil es Sicherheitsbedenken gegeben habe. Sie stammen aus Afghanistan, Syrien, Somalia und der Demokratischen Republik Kongo.
Kritik von den Grünen in Zeiten der Corona-Pandemie
Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Luise Amtsberg, erkennt im RTL-Gespräch an, dass es der Bundesregierung „unter den schwierigen Umständen“ der Corona-Pandemie immerhin gelungen sei, etwas mehr als tausend Menschen eine Aufnahme zu ermöglichen. Dies dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mehr als zehntausend Schutzsuchende auch weiterhin ohne Perspektive und unter menschenunwürdigen Bedingungen auf den griechischen Inseln ausharren müssten. „Es ist beschämend, dass die europäischen Mitgliedsstaaten zusehends ihren Wertekompass verlieren und diesen Zuständen kein Ende bereiten.“
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Von Moria nach Kara Tepe: Desolate Bedingungen im Ersatzlager
Nach dem Feuer in Moria war auf Lesbos das provisorische Lager Kara Tepe errichtet worden. Dort leben derzeit rund 7.600 Flüchtlinge. Zu den Bedingungen dort gibt es unterschiedliche Ansichten. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort auf die Grünen-Anfrage, das Camp sei nach ihren Erkenntnissen „aktuell mit winterfesten Zelten ausgestattet.“ Stephan Oberreit, Einsatzleiter von „Ärzte ohne Grenzen“ in Griechenland, stellt im Interview mit RTL dagegen fest: „Das Lager ist einfach nicht vorbereitet für den Winter.“ Gegen die Kälte machten sich die Menschen in ihren Zelten Feuer - eine Gefahr wegen des Rauchs und weil die Zelte abbrennen könnten.
Ein weiteres Problem, so Oberreit, der gerade selbst in Kara Tepe ist: Aus den Duschen im Camp käme weiterhin kein warmes Wasser. Bis Anfang Oktober konnten sich die Menschen noch im Meer waschen, doch das ließen die Wassertemperaturen der Ägäis jetzt nicht mehr zu. Die Folge der Hygieneprobleme: immer wieder Fälle von Krätze im Lager.
Ärzte ohne Grenzen: "Camp ist eine Schande für die Europäische Union"
Auch Grünen-Politikerin Amtsberg kritisiert EU und Bundesregierung: „Leider ist genau das eingetreten, was wir seit dem Brand in Moria befürchtet haben. Das schnell errichtete Ersatz-Zeltlager Kara Tepe konnte die katastrophalen Lebensbedingungen der Schutzsuchenden in keinster Weise verbessern.“ Viel mehr verschlimmere sich die Situation, je kälter die Tage würden.
Kara Tepe, ergänzt Stephan Oberreit von ‚Ärzte ohne Grenzen“, sei „der falsche Ort“ für ein Flüchtlingslager. Es habe Gründe, warum keine Einheimischen an dieser Stelle der Insel wohnen: Der starke Nordwind, die hohe Luftfeuchtigkeit. Nicht zuletzt handele sich um einen ehemaligen Militärübungsplatz. „Das Camp ist eine Schande für die Europäische Union“, so Oberreit.
Bis September 2021 soll das Lager von der EU durch ein dauerhaftes „Pilot-Aufnahmezentrum“ auf Lesbos ersetzt werden.
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